Kalmenhof in Idstein
Transportliste
Am 07. August 1943 erscheinen am frühesten Morgen Busse der Gekrat auf dem Anstaltsgelände. Es werden 53 Kinder abtransportiert und in die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein deportiert.
Pastor Lensch begleitete den für den Kalmenhof bestimmten Transport ein Stück weit bis zum Güterbahnhof Ochsenzoll, wo die Verladung stattfand. Am 9. September 1943 schreibt Pastor Lensch an Pastor von Bodelschwingh einen Brief, in dem er den Abtransport als Vorsorgemaßnahme darstellt. Durch den Abtransport habe vermieden werden sollen, daß bei einem späteren Schadensfall möglicherweise Transportmittel nicht zur Verfügung gestanden hätten. Die wohl auch von ihm erwartete Gegenfrage, warum er die Pfleglinge nicht in eine der befreundeten Anstalten geschickt habe, beantwortete er damit, daß das Telefon nicht gegangen sei. Wörtlich heißt es: Gern hätten wir unsere befreundeten Anstalten um Aufnahme gebeten, doch ist eine telefonische Verständigung bis heute unmöglich geblieben.
Eine andere Stelle des Briefes verrät in erschütternder Weise, wie Pastor Lensch versuchte, das Ungeheuerliche seines Vorgehens herunterzuspielen und sich mit christlichen Vokabeln von aller Schuld freizuwaschen: Bei dem Abtransport, den ich eine Strecke begleitete, sang ein kleines Dummerchen hinter mir während der halbstündigen Fahrt ununterbrochen Jesu geh voran. Das hat mich sehr getröstet und die Hoffnung gegeben, daß sie auch anderswo nicht von Gottes Liebe verlassen sind, möchte sie nur auch von uns Zurückgebliebenen nicht weichen. Es macht doch in aller Not und Gefahr dieser Zeit auch Freude, wenn man erleben darf, nicht vergeblich gearbeitet zu haben und in der vorbildlichen Bewährung aller lieben Mitarbeiter und Schwestern auch durch Tat bewiesen worden ist, daß nach dem alten Sengelmannschen Vermächtnis die Liebe Christi treibt uns mächtiger ist, als alle Sorgen um irdisches Gut.
Während der Transporte müssen sich erschreckende Szenen abgespielt haben. Vom Transport in die Tötungsanstalten Kalmenhof und Eichberg existiert ein schriftlicher Bericht vom 11. August 1943 der von Pastor Lensch als Transportbegleiter eingeteilten Alsterdorfer Mitarbeiter. Der Sonderzug mit allen für den Kalmenhof und den Eichberg bestimmten Pfleglingen der Langenhorner und der Alsterdorfer Anstalten fuhr zunächst bis Limburg. Zum Begleitpersonal gehörten auch zwei Schwestern, ein Pfleger und ein Hilfsjunge der Alsterdorfer Anstalten. Zu erheblichen Unruhen unter den Pfleglingen kam es in der Nacht zum 8. August, in der die Wagen, die für die Anstalt Kalmenhof bestimmt waren, abgehängt wurden. Die Aufregung steigerte sich noch, als die beiden Alsterdorfer Schwestern aufgefordert wurden, den Transport zu verlassen und sofort nach Hamburg zurückzukehren. Diese weigerten sich jedoch und wurden für den weiteren Transport vom Transportleiter der Gekrat zur Beruhigung auch der Langenhorner Pfleglinge eingeteilt. Im Bericht des transportbegleitenden Personals heißt es weiter: Bald nach der Abfahrt stieg ein Pflegling aus dem Zug und lief auf dem Trittbrett mit dem Ruf Sieg heil unserem Führer schreiend hin und her. Der Zug wurde angehalten und der Pflegling durch den Hilfsjungen und durch den Angestellten W. wieder in den Wagen zurückgebracht. Dort begann nun eine allgemeine Prügelei. Der Hilfsjunge fesselte die Langenhorner Pfleglinge mit Pflegegurten, die für die Alsterdorfer Pfleglinge mitgenommen worden waren. Noch ein weiteres Mal mußte der Zug angehalten werden, als ein Pflegling vom fahrenden Zug abgesprungen war. Er wurde wieder eingefangen. Um 9.00 Uhr morgens kam der Zug auf der Bahnstation Hattenheim an. Dort wiederholten sich die Fluchtversuche. Die Pfleglinge wurden dieses Mal vom Personal der Anstalt Eichberg eingefangen.
Genaue Unterlagen über das Schicksal der aus Alsterdorf abtransportierten Bewohner fehlen oft. Viele Akten sind heute nicht mehr auffindbar. Lediglich die ärztlichen Akten der in Hadamar ermordeten Bewohner aus Alsterdorf sind aufgefunden worden. Aufgrund des Studiums der jeweiligen standesamtlichen Todeslisten und der wenigen aufgefundenen Akten kommt die Anklageschrift gegen Pastor Lensch und Dr. Struve zu folgenden erschütternden Ergebnissen:
Von den 53 Kindern der Alsterdorfer Anstalten, die im Kalmenhof eintrafen, wurden mindestens 45 innerhalb von weniger als drei Monaten getötet. Drei weitere wurden etwa 10 Monate später ums Leben gebracht. Insgesamt bis zum 18. September 1944 wurden 51 der 53 Kinder getötet. Das Schicksal eines Kindes ist ungeklärt, lediglich ein 11 Jahre alter junge überlebte und sagte später im Hauptprozess gegen den Anstaltsleiter Grossmann aus. Die Tötungen geschahen alle durch das Spritzen einer Überdosis von Luminal.
Die Krankenakten der in Hadamar ermordeten Alsterdorfer sind, wie erwähnt, aufgefunden worden. Sie enthalten Eintragungen wie die folgenden:
28.10.1943 erkrankte an Darmgrippe mit Fieber, Herzschwäche. 29.10.1943 erholte sich nicht mehr, heute Exitus an Darmgrippe.
28.10.1943 erkrankt an Darmkatarrh.
29.10.1943 erholte sich nicht mehr, Exitus an Darmkatarrh.
26.10.1943 rapider Verfall, Herzschwäche.
27.10.1943 Exitus an Marasmus.
16.10.1943 lag für dauernd zu Bett, erkrankte an Grippe, erholte sich nicht mehr. Heute Exitus an Grippe.
26.10.1943 ganz abgebaut, unrein, rapider Verfall, Herzschwäche.
27.10.1943 erholte sich nicht mehr, heute Exitus an Marasmus.
Landesheilanstalten nach 1945
Meldebögen
Nahrungsentzug
Parteiideologen und Bürokraten
Aufarbeitung nach 1945
Günter Hestner
Günter Hestner wurde am 20. Juni 1936 geboren. Während seiner Geburt erlitt er Sauerstoffmangel, die Folge war eine spastische Lähmung an Armen und Beinen. Am 3. Dezember 1940 wurde er in die Alsterdorfer Anstalten in Hamburg, aufgenommen. In der über Günter angelegten Akte heißt es:
Er kann nicht sitzen, sich nicht aufrichten, ist ohne Sprache, gibt nur schnalzende Geräusche von sich, speichelt und gurgelt in seinem Speichel. Manchmal lachte Günter, in dem Bericht klingt das negativ: Abends lacht er meist laut und anhaltend ohne Grund. Von seiner Umgebung, heißt es in einem der letzten Berichte, nimmt er wenig Notiz. Die meiste Zeit schläft er. Unterhält man sich mit ihm, horcht er wohl auf, ist aber nur selten zum Lachen zu bewegen.
Der leitende Arzt Dr. Kreyenberg schreibt auf Günters Erbgesundheitskarte:
Liegekind … Muss vollkommen besorgt und gefüttert werden … Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff am 07.08.1943 nach Idstein verlegt… Bereits eine Woche nach seiner Verlegung« in die Tötungsanstalt Idstein in Hessen ist Günter dort als erstes von 51 (53) Kindern ermordet worden, die aus den Alsterdorfer Anstalten dorthin verlegt worden waren. In seiner Krankenakte wird die Tatsache, dass er ermordet wurde, durch falsche Angaben verschleiert. Er ist gerade 7 Jahre alt geworden.