Die innere Einstellung des Angeklagten Ru. zu seinem Einsatz im Vernichtungslager Treblinka
Da der Angeklagte Ru. im unteren und im oberen Lager tätig war, wusste er über die Einzelheiten der Abfertigungspraxis genau Bescheid. Ihm war bekannt, dass die angekommenen Männer, Frauen und Kinder zunächst durch Ansprachen und später durch am Bahnhof aufgestellte, in deutscher und polnischer Sprache abgefasste Hinweisschilder über ihr wirkliches Schicksal getäuscht wurden, damit sie nicht aufsässig wurden und den Deutschen und Ukrainern keine Schwierigkeiten bereiteten. Er wusste auch, dass alte und kranke Juden im Lazarett, die brennenden Leichen in der Grube vor Augen, erschossen wurden und dass die große Mehrzahl der Opfer unter Peitschen- und Kolbenhieben in die Gaskammern getrieben und dort, in den Zellen eng zusammengepfercht, durch die Abgase eines Dieselmotors getötet wurden.
Ru. hielt die Tötung der Juden für unmoralisch, unmenschlich und für ein gegen die Strafgesetze verstoßendes Unrecht. Er ging davon aus, dass Adolf Hitler die Durchführung der Judenvernichtung angeordnet hatte, hielt aber im Gegensatz zu manchen seiner Kameraden diesen Führerbefehl keineswegs für sich verbindlich, denn auf einen so unsinnigen Führerbefehl wie den der Judenvernichtung hat er, wie er sagt, nichts gegeben. Trotzdem beteiligte er sich an der Aktion Reinhard im Rahmen der ihm erteilten Befehle, weil er die schon früher aufgezeigten Vorteile, die sich hierdurch für ihn ergaben, wohl zu schätzen wusste. Er unternahm deshalb weder in Treblinka noch in Berlin, wo er mehrfach in Urlaub weilte, irgendeinen Versuch, um eine Versetzung zu einem Arbeitslager, zu einer Landesschützeneinheit oder zu einer sonstigen Stelle zu erreichen.
Angesichts der schwierigen Verhältnisse, denen viele Menschen im 2.Weltkrieg ausgesetzt waren, hielt er sein Leben in Treblinka für zufriedenstellend, selbst wenn er den dort von anderen SS-Männern verübten Grausamkeiten und den Massentötungen innerlich ablehnend gegenüber gestanden hätte. Das gilt umso mehr, als er mit seinen Kameraden gut auskam und mit seinen Vorgesetzten trotz Fehlens jeglichen Ehrgeizes und Eifers bei der Judenvernichtung keinerlei Schwierigkeiten hatte.
Diese Feststellungen beruhen auf der Einlassung des Angeklagten, soweit man ihr folgen kann, auf den eidlichen Bekundungen der Zeugen Raj., Cz., Hell., Ros., Li. und Lew. sowie auf der uneidlichen Bekundung des Zeugen v. He.
Der Angeklagte lässt sich wie folgt ein:
Er sei im März 1933 keineswegs aus Überzeugung der NSDAP beigetreten, sondern nur, weil er gehofft habe, hierdurch beruflich besser voranzukommen. Bis 1937 sei er nur zahlendes Mitglied der Partei gewesen, ohne sich in irgendeiner Form zu betätigen. Im Jahre 1937 sei der Parteigenosse v. He. an ihn mit der Bitte herangetreten, er möge Blockverwalter werden, weil man in seiner Wohngegend keinen in geldlichen Dingen zuverlässigen Mann zum Einkassieren der von den Parteimitgliedern zu entrichtenden Beiträge habe. Um Herrn v. He. aus der Verlegenheit zu helfen, habe er zugesagt. Seine Tätigkeit habe sich aber wirklich nur auf das Einkassieren und das Abliefern der Beiträge beschränkt. Schon wegen seines Berufes als Kellner habe er sich abends niemals an irgendwelchen Veranstaltungen der Partei beteiligen können. Da er in der Zeit vor dem 1.Weltkrieg mehrere Jahre in England und Frankreich als Kellner gearbeitet habe, sei er nicht so engstirnig gewesen wie jemand, der immer nur in Deutschland geblieben sei. In den letzten Jahren vor dem Ausbruch des 2.Weltkrieges habe er durch seine Tätigkeit als Kellner in Berliner Betrieben, darunter auch in dem feinen Nachtklub Die Insel, viele Parteigrößen bedient und hierbei festgestellt, dass es sich auch nur um normale Sterbliche und nicht um Übermenschen gehandelt habe. Aus dieser Ernüchterung heraus habe er auch den Führer niemals als Halbgott angesehen und auf seine Befehle, wenn sie unmoralisch und unrealistisch gewesen seien, nicht viel oder sogar nichts gegeben. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen damals habe er sich nicht der allgemeinen Massenhysterie angeschlossen, sondern seinen kühlen Kopf behalten.
Weil er niemals antisemitisch eingestellt gewesen sei, habe er sich auch keineswegs an den Führerbefehl zur Vernichtung der Juden in Treblinka gebunden gefühlt, zumal die Entfernung von Treblinka zur Reichskanzlei in Berlin sehr groß gewesen sei. Wenn er dennoch die ihm in Treblinka übertragenen Aufgaben recht und schlecht ausgeführt habe, so nur deshalb, weil er sich ihnen nicht habe entziehen können. Er habe niemals um eine Versetzung nachgesucht, weil das für ihn aussichtslos gewesen sei. Zwar habe ein SS-Mann mit dem Vornamen Alfred, der sich schon vor dem Aufstand am 2.August 1943 zur Front gemeldet hatte, schließlich Erfolg gehabt und sei kurz nach dem 2.August 1943 zu einer Fronttruppe versetzt worden. Das sei aber ein junger Mann gewesen, den man bei der kämpfenden Truppe habe gut gebrauchen können. Für ihn selbst habe das nicht gegolten, da er 1943 bereits im 53. Lebensjahr gestanden habe.
Die ihm übertragenen Aufgaben offen zu verweigern, dazu habe er nicht genügend Mut und zu viel Angst vor dem SS-Obersturmführer Wirth gehabt, da er miterlebt habe, wie Wirth Kameraden fertiggemacht und ihnen mit der Einweisung in ein Konzentrationslager gedroht habe, falls sie nicht mitmachten.
Eine solche Auseinandersetzung mit Wirth habe er sich ersparen wollen und ihn deshalb wegen einer anderen Verwendung außerhalb von Treblinka erst gar nicht angesprochen.
Die Erschießung des jüdischen Restkommandos habe er innerlich missbilligt. Da Wirth zu dieser Zeit gar nicht mehr im Raume Lublin gewesen sei, hätte man die restlichen 25 bis 30 Häftlingen auch freilassen können. Da bereits beim Aufstand viele Juden geflohen seien, habe man zu dieser Zeit die restlose Geheimhaltung der Vorgänge in Treblinka ohnehin nicht mehr wahren können.
Leider habe er hier nichts zu sagen gehabt.
Nachdem der Angeklagte Franz die Erschießung der restlichen Häftlinge angeordnet und ihn zur Bewachung der beiden Güterwaggons bestimmt hatte, habe er sich fügen müssen. Er sei schon froh gewesen, dass Franz ihn nicht dem eigentlichen Exekutionskommando zugeteilt habe. Obwohl ihm die in den beiden Waggons auf ihren Tod wartenden Juden sehr leid getan hätten, habe er wegen seiner unbedeutenden Stellung im Lager nichts zu ihrer Rettung beitragen können.
Dieser Einlassung vermag das Schwurgericht nur zum Teil zu folgen. Dass Ru. trotz seiner Zugehörigkeit zur NSDAP und seiner Tätigkeit als Blockverwalter kein besonders aktiver Nationalsozialist gewesen ist, kann man annehmen, denn der uneidlich vernommene Angestellte v. He. hat glaubhaft erklärt, Ru. habe sich erst nach längerem Zureden dazu bereit erklärt, Blockwart zu werden und sich bei diesem Posten darauf beschränkt, die Mitgliedsbeiträge der in seinem Block wohnenden Parteigenossen einzusammeln und sie genauso sorgfältig abzurechnen, wie er es mit seiner als Kellner eingenommenen Tageskasse zu tun gewohnt war. Ebenso ist davon auszugehen, dass Ru. keineswegs aus Überzeugung an der Vorbereitung der Euthanasie teilgenommen hat.
Aus der Aussage des Zeugen v. He. ergibt sich, dass Ru. lediglich an einer neuen leichten Arbeit interessiert war, als Ende 1939 das Nachtlokal Die Insel nicht mehr genügend Besucher hatte.
Anstatt bei der Dienststelle T4 als Fotokopist zu arbeiten, hätte Ru. auch eine andere Brotätigkeit bei einer Behörde oder Privatfirma angenommen, wenn man sie ihm angeboten hätte.
Schließlich dürfte Ru. zwar kein besonderer Freund der Juden, aber auch kein Antisemit gewesen sein, da er sich andernfalls in Treblinka sicherlich weitaus aktiver betätigt haben würde. Darüber hinaus ist er auch frei von sadistischen Neigungen gewesen.
Abgesehen davon, dass er nach den Bekundungen der Zeugen Raj. und Cz. im unteren Lager die angekommenen Juden und nach seinen eigenen Angaben im oberen Lager die Leichenträger während der Arbeit mit seiner Peitsche geschlagen hat, ist er willensstark genug gewesen, den vielen Gelegenheiten zu entsagen, sich durch schwere, raffinierte Misshandlungen von Juden ein besonderes Vergnügen zu verschaffen.
Die im oberen Lager inhaftiert gewesenen Zeugen Ros., Li., Hell. und Lew. haben keinerlei eigenmächtige Handlungen des Angeklagten Ru. zum Nachteil von Arbeitshäftlingen in Erinnerung, so dass an Taten außerhalb der Massentötungen lediglich seine vom Eröffnungsbeschluss nicht umfasste Mitwirkung an der Liquidierung des jüdischen Restkommandos verbleibt.
Allerdings vermag sich das Schwurgericht der Darlegung des Angeklagten Ru., er habe nur deshalb in Treblinka mitgewirkt, weil eventuelle Versetzungsgesuche für ihn von vornherein aussichtslos gewesen seien, nicht anzuschließen. Seit dem Jahre 1937 kannte er den bei der Kanzlei des Führers tätig gewesenen Zeugen v. He. Er selbst war schon seit Ende 1939 bei dieser Stelle tätig gewesen. Bei seiner Versetzung nach dem Osten hatte man ihm zugesichert, er werde als Wachmann in ein Arbeitslager kommen. Da es zum Beispiel in der Nähe von Lublin und an vielen anderen Orten derartige Arbeitslager gab und da Ru. häufig in Berlin auf Urlaub weilte, hätte es nahegelegen, unter Einschaltung des Zeugen v. He. um seine Versetzung vom Vernichtungslager Treblinka zu einem Arbeitslager oder zu einem Kriegsgefangenenlager nachzusuchen, wo überall zumeist ältere Wachmänner eingesetzt wurden. Hierbei hätte er auf die ihm seinerzeit gegebene Zusicherung auf Abstellung zu einem Arbeitslager und auf sein Alter hinweisen können. Bei einem solchen Versuch hätte er keineswegs Leib oder Leben riskiert, da er durch seine Mitgliedschaft in der Partei seit 1933, durch seine Tätigkeit als Blockverwalter seit 1937 und durch ein gutes Leumundszeugnis des Zeugen v. He. politisch abgesichert war. Zudem kannte er sich in der KdF beziehungsweise in der Dienststelle T4, der er schon seit Ende 1939 als Fotokopist angehört hatte, besonders gut aus und wusste die Vorgesetzten nach Veranlagung und Temperament richtig einzuschätzen.
Der Umstand, dass er keinerlei Versuche um eine Ablösung unternommen hat, lässt zur Überzeugung des Schwurgerichts den Schluss zu, dass er sich mit seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Treblinka nicht zuletzt wegen der hierdurch gebotenen Vorteile (häufiger Urlaub, gutes Essen, Bedienung durch einen jüdischen Putzer und anderes mehr), abgefunden hatte und dass er sie ohne ständige Gewissenskonflikte ausübte.