Bruder, stehst auch Du des Morgens frierend beim Appell
Wir stehen stumm in Zehnerreihen, im Osten wird es langsam hell,
Steil ragt der Wald, wir atmen die Luft in vollen Zügen,
Um Kräfte zu sammeln für den Tag, denn keiner von uns will unterliegen.
Da flammt’s im Osten seltsam auf, als stünde die Welt in Flammen,
Wir nehmen es als gutes Zeichen – bricht wirklich bald alles zusammen?
Und dann stehen wir wieder stumm, nur die Fäuste geballt,
Ich in Ravensbrück, du in Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.
Bruder stehst auch Du des Tags mit der Schaufel in der Hand?
Wird es denn nicht Mittag, nimmt denn heut kein Ende der Sand?
Oder schleppst auch Du wie ich große, schwere Steine?
Schmerzt auch Dich der Rücken, brennen Dir Arme und Beine?
Sieh, Du bist doch Mann, bist gewohnt ans harte Schlagen,
Ich bin schwächer, und mein Leib hat Kinder schon getragen.
Wie denkst Du, Bruder, über sie, über unser Kinder Leben?
Werden Schläge und Strafblock stets als Ordnung darüber schweben?
Ach, schon geht es weiter – doch im Herzen Hoffnung und Halt,
Ich in Ravensbrück, Du in Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.
Oh, Bruder, einmal kommt der Morgen, wo uns kein Appell mehr hält,
Wo weit offen die Tore, und vor uns liegt die große, freie Welt,
Und dann werden wir KZler auf der breiten Straße wandern,
Draußen stehn die Befreier, auf uns warten schon die andern,
Und wer uns sieht, sieht die Furchen, die das Leid uns ins Antlitz geschrieben,
Sieht Spuren von Körper- und Seelenqual, die uns als Mal geblieben.
Und wer uns sieht, sieht den Zorn, der hell in den Augen blitzt,
sieht den juchzenden Freiheitsjubel, der ganz unsere Herzen besitzt.
Und dann reihen wir uns ein in die letzte große Kolonne,
Dann heißt es zum letzten Mal „Vorwärts marsch“ –
doch dann führt der Weg zum Licht und zur Sonne.
Oh, Bruder, siehst Du gleich mir diesen Tag, Du mußt doch denken, er kommt bald-
Und dann ziehen wir, ich aus Ravensbrück, Du aus Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.
Text: Käthe Leichter
1940 - 1942 in Ravensbrück ermordet