Bericht von Vrba Rudolf

Am 17. Juli 1942, dem Tag, an dem Heinrich Himmler nach Auschwitz kam, starb Jankel Meisel, weil drei Knöpfe an der Jacke seiner gestreiften Häftlingsuniform fehlten – wahrscheinlich die erste, auf jeden Fall aber die letzte Nachlässigkeit, die er sich je im Leben zuschulden kommen ließ.
Die meisten von uns mochten den kleinen alten Jankel, obwohl wir ihn nicht besonders gut kannten. Die schwarzen Knopfaugen stets gesenkt, erledigte er lautlos alles, was ihm aufgetragen wurde, befolgte gehorsam alle Befehle und fügte sich so nahtlos wie nur irgend möglich in das dumpfgraue Gewebe des Lagerlebens ein.
Falls er überhaupt einen Wunsch hatte, dann wahrscheinlich den, unsichtbar zu sein. Letztendlich gelang es ihm nicht, dieses verständliche Ziel zu erreichen, und ich bin noch heute fest davon überzeugt, dass die Folgen seines Versagens ihn weniger schmerzten als die aufsehenerregende, theatralische Art, auf die dieses Versagen ans Licht gezerrt wurde. Er, der es hasste, aufzufallen, zog am Schluss alle Aufmerksamkeit auf sich.
Als sich Himmlers Entourage dem Tor von Auschwitz näherte, wurde Jankel Meisel aufgrund seiner Nachlässigkeit ins Scheinwerferlicht trauriger Berühmtheit gezerrt. Sein Blockältester erspähte den klaffenden Kragen seiner Jacke, woraufhin Jankel in aller Hast zu Tode geprügelt und nur Minuten, bevor der hohe Herr zur Inspektion des Hauses eintraf, sozusagen unter den Teppich gekehrt wurde.
Jankel konnte nicht wissen, dass er an eben dem Tag starb, an dem über die Zukunft von Auschwitz entschieden wurde. Wir anderen, die wir sorgfältiger auf unsere Kleidung geachtet hatten, erfuhren erst nach und nach, was diese Zukunft bereithielt.
Ich selbst wusste zu diesem Zeitpunkt kaum, was um mich herum vorging, geschweige denn, was kommen würde, denn ich war erst seit siebzehn Tagen als Häftling im Lager. Überhaupt war mein ganzes Denken einzig und allein von Himmlers Besuch beherrscht, weil wir seit Tagen kaum über etwas anderes gesprochen hatten.
Ungefähr eine Woche vorher, als wir uns gerade schlafen legen wollten, war unser Blockältester in die Stube gepoltert gekommen, und alle waren vorschriftsmäßig sofort verstummt, denn der Blockälteste war ein mächtiger Mann, der unser Schicksal unmittelbar in Händen hielt. Zwar war auch er nur ein Häftling, genau wie wir, aber er war ein Berufsverbrecher, genauer gesagt ein Mörder, und damit befand er sich eine Stufe über uns, deren Verbrechen darin bestand, Jude zu sein. Und die Tatsache, dass er Deutscher war, erhöhte seinen Status noch mehr.
»In einer Woche«, sagte er, »wird im Lager ein sehr großes Ereignis stattfinden. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, wird uns einen Besuch abstatten. Die Anweisungen für das Verhalten der Häftlinge lauten wie folgt: Wann immer möglich antworten sie nur mit ›ja‹ oder ›nein‹, allerdings mit größtmöglichem Respekt. Das heißt, sie antworten mit: ›Jawohl, melde gehorsamst‹ oder ›Nein, melde gehorsamst‹. Sollte das nicht ausreichen, hat die Antwort so kurz und bündig wie möglich auszufallen. Sollte jemand nach den Bedingungen im Lager gefragt werden, sagt er: ›Danke der Nachfrage, ich fühle mich hier sehr wohl.‹ Alles im Lager, einschließlich der Häftlinge, hat pieksauber zu sein – wie aus dem Ei gepellt. Es muss absolute Ordnung herrschen. Jeder, der sich nicht peinlichst genau an diese Anweisungen hält, wird mit äußerster Härte bestraft.«
Als ich an diesem Abend auf meiner Pritsche lag, war ich noch nervöser als sonst. Den anderen ging es genauso, denn wir wussten, dass ein einziger Patzer in Anwesenheit des Reichsführers Prügel oder sogar Erhängen nach sich ziehen würde, oder beides. Unser Blockältester muss jedoch noch nervöser gewesen sein als wir, denn gleich am nächsten Tag fing er an, uns mit der Verbissenheit eines Feldwebels in einer preußischen Kadettenanstalt für den hohen Besuch zu drillen.
Er ließ uns antreten und brüllte: »Ich bin der Reichsführer SS. Wollen wir doch mal sehen, ob ihr euch entsprechend benehmen könnt.«
Langsam schritt er unsere Reihen ab und musterte jeden von uns mit grimmigem Blick, ein kleiner Mörder, der einen großen nachäffte. Entdeckte er schmutzige Fingernägel oder Holzpantinen, die nicht ordentlich geschwärzt waren, überschüttete er den Missetäter mit den übelsten Beschimpfungen und drosch mit seinem Knüppel auf ihn ein. Als wären wir kleine Kinder, guckte er uns sogar hinter die Ohren. Anschließend machte er sich im Block auf die Suche nach Decken, die nicht akkurat genug gefaltet waren.