Urteil – mündl. Begründung

Mündliche Begründung des Urteils des Landgerichts Detmold gegen Reinhold Hanning wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz

Übertragung einer stenografischen Mitschrift vom 17. Juni 2016

Einleitung

Herr Hanning, Sie sind verurteilt worden, weil Sie sich schuldig gemacht haben der Beihilfe zum Mord. Sie waren knapp zweieinhalb Jahre in wichtiger Funktion im Konzentrationslager Auschwitz tätig und haben damit den Massenmord gefördert. Ihnen war bewusst, dass in Auschwitz täglich unschuldige Menschen in den Gaskammern getötet und erschossen wurden oder aufgrund der furchtbaren Lebensverhältnisse starben und dass Sie mit ihrer Wachtätigkeit diese Massenvernichtung unterstützt haben. Sie haben ja auch selbst die richtige Einschätzung in Ihrer persönlichen Erklärung gefunden, indem Sie gesagt haben, dass Sie sich einer verbrecherischen Organisation angeschlossen haben. Sie haben aber nicht nur einfach einer verbrecherischen Organisation angehört, durch Ihre Tätigkeit im Konzentrationslager haben Sie sich selbst an den Verbrechen von Auschwitz beteiligt.

Im Vorfeld dieses Prozesses ist von vielen Seiten diskutiert worden, ob einem 94 jährigen Angeklagten siebzig Jahre nach den Verbrechen von Auschwitz noch der Prozess gemacht werden soll. Eine solche moralische Frage stellt sich für ein Gericht nicht. Legt die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage einen hinreichenden Tatverdacht dar und stehen dem Prozess keine Hindernisse – etwa Verhandlungsunfähigkeit, Verjährung entgegen – dann ist das Verfahren zu eröffnen und die Hauptverhandlung durchzuführen. Aber auch aus nicht juristischer Sicht können alle, die im Rahmen dieser Hauptverhandlung die Möglichkeit hatten, die Aussagen der Nebenkläger miterleben zu dürfen, die Frage nach der Notwendigkeit eines solchen Verfahrens nur mit einem ganz klaren Ja beantworten. Dieser Prozess ist das mindeste, was eine Gesellschaft tun kann, um den unzähligen Opfern des Holocaust zumindest ein klein wenig Gerechtigkeit zu verschaffen. Auch noch 70 Jahre nach den Verbrechen. Auch mit einem 94 jährigen Angeklagten.

Wenn auch die Frage, ob das Verfahren durchzuführen war, für uns anhand der gesetzlichen Vorgaben einfach zu entscheiden war, das Verfahren selbst war es nicht. Das lag nicht daran, dass der Sachverhalt nur schwer aufklärbar war. Das hatte auch nichts damit zu tun, dass die Kammer problematische Rechtsfragen zu beantworten hatte. Solchen Schwierigkeiten muss sich ein Gericht alltäglich stellen. Die Herausforderung des Verfahrens lag vielmehr darin begründet, dass vielfältige Interessen mit diesem Prozess verbunden waren. Vor einem deutschen Gericht das Grauen von Auschwitz und das dort erlittene unermessliche Leid zu schildern. Von einem der letzten noch lebenden Täter die Wahrheit über das Vernichtungsgeschehen und eine Entschuldigung zu hören. An das historische Geschehen zu erinnern. Die heutigen Generationen vor der Gefahr der Verfolgung von Menschen aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen zu warnen. Eine Aufarbeitung des durch Versagen und Versäumnisse des Staates, der Justiz und der Gesellschaft jahrelang ungesühnten Holocaustunrechts, um nur einige zu nennen.

All diesen Erwartungen gerecht zu werden, das vermag ein Strafverfahren schlichtweg nicht zu leisten. Denn für ein Gericht geht es allein um die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten. Die Kammer hat dessen individuelle Schuld zu beurteilen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Konkret war es Aufgabe der Kammer aufzuklären, ob und in welchem Zeitraum der Angeklagte in Auschwitz war und welche Tätigkeiten er dort ausgeübt hat.

Bei dem gesamten geschichtlichen Kontext der Tat handelt es sich um ein von Anfang an feststehendes historisches Ereignis, das keiner weiteren Aufklärung bedurfte. Und nach Feststellung des abzuurteilenden Sachverhalts war im nächsten Schritt zu prüfen, ob der Angeklagte wegen seiner Tätigkeit in Auschwitz strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen ist, und zwar wegen Beihilfe zum Mord.

Allgemeine Bemerkungen zur „Beihilfe“

Nach § 27 StGB ist Gehilfe, wer einem anderen vorsätzlich zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat. Dieser Tatbestand war bereits im Reichsstrafgesetz verankert und hatte in seiner heutigen Form Gültigkeit auch schon nach Ende des zweiten Weltkrieges.

Warum also hat es mehr als 70 Jahre gedauert, bis dem Angeklagten der Prozess gemacht wurde? Die Antwort auf diese Frage ist so einfach wie erschreckend: Nach Ende des zweiten Weltkrieges wollten sich Politik, Justiz und Gesellschaft nicht mit dem Holocaustunrecht auseinandersetzen. Stattdessen herrschte ein Klima der massiven Verdrängung. Niemand wollte von den zurückliegenden Verbrechen des Nationalsozialismus gewusst haben, geschweige denn daran beteiligt gewesen sein. Der Zeuge Wendel hat es prägnant zusammengefasst, als er gefragt wurde, ob er denn nicht mit Familie, Freunden oder Bekannten über seine Zeit in Auschwitz gesprochen habe. Seine Antwort: „Darüber wollte keiner reden“. Statt als Täter sahen sich die Deutschen schnell selbst als Opfer. Als Opfer der nationalsozialistischen Propaganda und ihrer Obrigkeitshörigkeit. Für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und einer Vergangenheitsbewältigung blieb beim Wiederaufbau Deutschlands und dem nachfolgenden Wirtschaftswunder vermeintlich keine Zeit.

Es war ein tiefgreifender kultureller Wandel in Politik und Gesellschaft erforderlich und die ihm folgende Erkenntnis, dass alle in die Befehlskette eingegliederten Akteure – von den politischen Führern Hitler, Göring, Himmler und Heydrich in Berlin bis hin zum Wachmann im Konzentrationslager – als Teil der Vernichtungsmaschinerie zum Gelingen der sogenannten „Endlösung“ beigetragen hatten. Diese geänderte gesellschaftliche Einstellung war zweifelsohne längst überfällig. Sie fand ihren Niederschlag in der Entscheidung des Landgericht München in Sachen Demjanjuk im Mai 2011. Zum Glück nahmen die Anklagebehörden diese Entscheidung zum Anlass, nun auch die Altfälle wieder aufzurollen. Das Urteil des Landgericht München gab damit den Startschuss auch für dieses Verfahren. Spät, sehr spät, aber gerade noch rechtzeitig, bevor die lebendigen Erinnerungen der Holocaustüberlebenden zu überlieferten Erinnerungen werden.

Die Haupttat, zu der Hanning Beihilfe leistete

Nach der Machtübernahme verfolgten Hitler und seiner Partei, die NSDAP, konsequent das Ziel, die im Rahmen ihrer Rassenideologie als minderwertig angesehenen Bevölkerungsgruppen – Sinti und Roma, behinderte Menschen, Homosexuelle, vor allem aber die Juden – auszuschalten. Letztere wurden Schritt für Schritt aus dem öffentlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben gedrängt. Mit der Reichskristallnacht am 09. November 1938 wurden die offene Terrorisierung jüdischer Bürger und ihre Vertreibung aus Deutschland eingeleitet. Juden wurden misshandelt und getötet, jüdische Synagogen niedergebrannt, Geschäfte und Wohnungen zerschlagen. Eine Verhaftungswelle überrollte die jüdische Bevölkerung. Im Laufe des Jahres 1941 erfolgte die letzte radikale Steigerung in der sogenannten Rassenpolitik. Die zuvor erfolgte Zwangsumsiedlung der jüdischen Bevölkerung in ärmlich ausgestattete Ghettos mit völlig unzureichender Versorgung und katastrophalen hygienischen Verhältnisse, wurde zugunsten der sogenannten „Endlösung“ aufgeben. Die nationalsozialistische Führungsspitze strebte nunmehr die planvolle und unbarmherzige Vernichtung aller Juden im deutschen Einflussbereich aus ideologischer Verblendung und eines sittlich auf tiefster Stufe stehenden Antisemitismus an.

Auschwitz war das größte der Vernichtungslager, in Auschwitz wurde der Massenmord organisiert und industriell betrieben. Mindestens 1,1 Millionen Menschen sind im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz bis 1945 ermordet worden, allein im Tatzeitraum von Januar 1943 bis Juni 1944 mindesten 170.000 Kinder, Frauen und Männer. Sie wurden von den Tätern mit Giftgas getötet, erschossen oder durch die Lebensverhältnisse vernichtet.

Die überwiegende Zahl der nach Auschwitz deportierten Menschen wurde unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern getötet. Das geschah auf heimtückische und grausame Weise. Schon der Transport nach Auschwitz war furchtbar. Eingepfercht mit 80 bis 90 Menschen in einem Viehtransporter, ein Eimer mit Wasser, ein Eimer für die Notdurft, so waren sie mehrere Tage unterwegs. Herr Bill Glied hat die menschenunwürdigen Umstände einprägsam beschrieben.

Als die Deportierten endlich in Auschwitz ankamen, wurden die völlig erschöpften Menschen aus den Waggons getrieben unter dem Eindruck einer jeden Widerstand erstickenden Drohkulisse. Uniformierte SS-Leute mit Gewehren, lautes Geschrei: „raus, raus, schnell, schnell“, wild bellende Hunden. Es folgte die Selektion. Männer mussten sich rechts aufstellen, Frauen und Kinder links. Familien wurden auseinandergerissen, sie sahen sich nie wieder. Gnadenlos und menschenverachtend entschied ein Wink mit der Hand über das Schicksal eines jeden. Frau Irene Weiss hat sich gemeinsam mit uns einige Fotos aus dem Lilly Meier Album angesehen, welche den Vorgang der Selektion dokumentieren. Ein Lichtbild zeigt ihre Mutter und ihre beiden kleinen Brüder unmittelbar vor der Vergasung. Wie furchtbar dieser Anblick noch heute für sie ist, war für alle Prozessbeteiligten greifbar.

Aber noch glaubten die Deportierten, ihnen werde nichts geschehen, noch dachten sie, Auschwitz sei ein Arbeitslager. Herr Leon Schwarzbaum hat hier die Worte seines Vaters wiedergegeben: „Uns wird nichts passieren. Die Deutschen sind anständige Menschen, Dichter und Denker“. Und diese Erwartung wurde ganz bewusst gefördert, und zwar zu einem einzigen Zweck – den reibungslosen Ablauf der Vernichtung. Einige der Gefangenen mussten Karten nach Hause schreiben, in denen sie berichteten, dass sie im Arbeitslager angekommen seien und es ihnen gut ginge. Herr Justin Sonder hat das anschaulich geschildert. Den Ankommenden wurde vorgespiegelt, dass ihr Gepäck ihnen später nachgebracht werden würde. Den Menschen wurde vorgegaukelt, sie sollten jetzt duschen. Ihre Kleidung sollten sie ordentlich zusammenlegen, damit sie sie später wiederfänden. Völlig arglos betraten sie die Gaskammer. Nachdem die Türen von außen verriegelt worden waren, waren die Menschen wehrlos dem Tod ausgeliefert.


Der Wirkstoff des in den Gaskammern eingesetzten Zyklon B ist Blausäure. Diese führt, wie der Sachverständige Professor Dr. Daldrup hier anschaulich geschildert hat, zunächst zu einer Reizung des Mund- und Rachenraums und der Augen, Übelkeit, Erbrechen, nach und nach mit zunehmender Konzentration dann zu extrem steigendem Kopfdruck, Atemnot, Herzschmerzen und Krämpfen und schließlich zu Bewusstlosigkeit und Tod aufgrund von Sauerstoffmangel. Bis dahin erleiden die Opfer furchtbare Qualen. Hinzu kam noch, dass die Symptome zunächst bei den kleineren Personen nahe der Einwurfstelle auftraten. Eltern sahen ihre Kinder sterben. Die weiter entfernt stehenden Menschen mussten den Todeskampf der anderen mit ansehen und erkennen, dass deren Qualen auch ihnen bevorstanden. Es breitete sich eine allgemeine Todesangst aus, die Menschen gerieten und Panik und sie schrien. Erst nach 20 bis 30 Minuten war ihr Leiden beendet.

Aber auch diejenigen, die nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet wurden und ins Lager kamen, sollten den Tod finden. Die Toraufschrift des Stammlagers „Arbeit macht frei“ hätte perfider nicht sein können. Denn tatsächlich hatten auch diese Menschen keine Überlebungschance. Es ging allein darum, so lange wie möglich ihre Arbeitskraft auszunutzen.

Die Deportierten mussten sich nackt ausziehen, sie wurden desinfiziert, ihre Körperbehaarung entfernt, sie wurden tätowiert, bekamen Häftlingskleidung. Mit diesem abscheulichen Verfahren, welches Frau Erna de Vries mit bewegenden Worten geschildert hat, sollte ihnen ihre Individualität genommen und sie zu Objekten degradiert werden. Frau Hedy Bohm hätte das Ergebnis dieser Prozedur eindrucksvoller nicht beschreiben können: Sie habe hinterher in einem Fensterglas ihr Spiegelbild gesehen und sich selbst nicht mehr erkannt.

Auf die sorgenvolle Frage nach ihren Angehörigen bekamen die Gefangenen eine furchtbare Antwort. Man zeigte auf die Schornsteine und den aus ihnen stetig aufsteigenden Rauch und erklärte ihnen, ihre Familie sei durch die Schornsteine in den Himmel gegangen. Herr Mordechai Eldar hat uns dies eindrucksvoll geschildert und berichtet: „Wir haben geweint und die Alten haben uns getröstet.“

Der Aufenthalt im Lager bedeutete aufgrund der chronischen Unterernährung nach wenigen Wochen den Tod. Die ausschließlich aus Ersatzkaffee, Suppe und Brot bestehende Ernährung war quantitativ und qualitativ völlig unzureichend. Hinzu kamen die verschärfenden Faktoren der unzureichenden Hygiene, der mangelnden Kleidung und der harten Arbeit. Und schließlich die grausame und menschenverachtende Behandlung der Gefangenen durch das KZ-Personal. Das System von Terror und Willkür in den Konzentrationslagern war beinahe grenzenlos und ohne jede Gnade. Pausenlos waren die in jeder Hinsicht entrechteten Gefangenen den brutalen Schikanen von SS-Leuten ausgesetzt. Immer standen sie auf der Schwelle zum Tod. „Das KZ-Personal hatte Spaß daran, uns leiden zu sehen“ – so hat Herr Benjamin Lesser die unfassbaren Quälereien durch die Wachleute zusammengefasst.

Tausende Menschen starben vor Hunger und Erschöpfung. Wer zu schwach oder zu krank war, um noch arbeiten zu können, wurde selektiert und entweder mit Phenol-Injektionen in das Herz oder in den Gaskammern getötet. Herr Justin Sonder hat eindrucksvoll geschildert, dass man nach drei bis vier Monaten in Auschwitz schon zu den „älteren“ Gefangenen gehörte. Er selbst hat siebzehn Selektionen überlebt. Welche furchtbaren Ängste er dabei jedes Mal ausgestanden hat, hat er uns eindrucksvoll geschildert.

Jemanden verhungern zu lassen, das erfüllt ebenfalls das Mordmerkmal der Grausamkeit. Der Sachverständige Dr. Karger hat überzeugend dargelegt, dass der Hungertod eine Tortur und Folter für die Opfer darstellt. Diese leiden zunächst an einem quälenden Hungergefühl, das alles andere ausblendet und überlagert. Danach kommt es zu einem maximalen Gewichtsverlust bis zu einem Abbau der inneren Organe. Folgen der Schwächung des Körpers sind schmerzhafte Infektionen. Und während der ganzen Zeit sind sich die Betroffenen bewusst, dass sie dabei sind, ihr Leben zu verlieren, was eine hochgradige psychische Traumatisierung zur Folge hat.

Zudem wurden hunderte von Gefangenen in Auschwitz erschossen, unter anderem bei den Massenerschießungen an der sogenannten schwarzen Wand zwischen Block 10 und 11. Durch den Bunkerkapo wurden die Todeskandidaten nackt und barfüßig von Block 11 zur Schwarzen Wand gebracht. Die meisten hatten zuvor die Tötungen der Mitgefangenen miterlebt in dem Wissen, dass das gleiche Schicksal nun auch ihnen bevorstehen würde. Die Opfer sahen auf dem Weg von Bunker zur schwarzen Wand die Blutspuren und Leichen der zuvor Erschossenen. Achtlos auf einem Haufen gestapelt. Die Gefangenen mussten sich mit dem Gesicht zur schwarzen Wand stellen Mittels Kleinkalibergewehren wurden sie durch einen Genickschuss getötet. Auch dies war grausam.

Mindestens 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet. Die Kammer geht für den Tatzeitraum von mindestens 170.000 ermordeten Menschen aus. Der Sachverständige Dr. Hördler hat der Kammer geschildert, dass allein von Januar 1943 bis April 1944 etwa 190.000 Menschen unmittelbar nach der Deportation in den Gaskammern getötet wurden. Hinzu kommen die Opfer aus der sogenannten „Ungarn-Aktion“ jedenfalls bis zur Fertigstellung der Rampe in Birkenau. Da, wie der Sachverständige Dr. Hördler hier dargelegt hat, die 3. Kompanie an der neuen Rampe in Birkenau keinen Bereitschaftsdienst mehr zu leisten hatte, können wir die Ermordung der dort ankommenden Deportierten dem Angeklagten nicht mehr zurechnen. Weiterhin verstarben im Tatzeitraum mehr als 8.000 Menschen während ihres Lageraufenthalts durch Hunger und Krankheit. Die schwachen oder kranken Gefangenen wurden mit Phenolinjektion in das Herz oder in den Gaskammern ermordet. Und schließlich wurden hunderte von Menschen an der schwarzen Wand erschossenen, wie uns der Zeuge Kriminalhauptkommissar Cüsters erläutert hat.

Allerdings ist nicht auszuschließen, dass es Fälle gab, bei denen keine Mordmerkmale erfüllt wurden. Diese als Totschlag zu wertenden Taten sind inzwischen verjährt. Zudem müssen wir nach der nicht zu widerlegenden Einlassung des Angeklagten davon ausgehen, dass er sich aufgrund von Erkrankung und Fortbildung während des angeklagten Tatzeitraums einige Zeit nicht in Auschwitz aufhielt. Mindestens 170.000 Opfer können wir ihm aber sicher zurechnen. 170.000 Menschen, eine unvorstellbare Zahl.

Es ist den Nebenklägern, die in diesem Verfahren ausgesagt haben, zu verdanken, dass die unzähligen Opfer des Holocaust ein Gesicht und eine Stimme erhalten haben. Die Nebenkläger haben deutlich gemacht, dass hinter jedem Toten ein persönliches Schicksal steht, jeder Überlebende eine einzigartige Leidensgeschichte durchlebte. Die Nebenkläger verloren in Auschwitz ihre Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins. Viele von Ihnen sind die Einzigen aus ihrer Familie, die überlebten.

Freude über ihr Überleben können die Nebenkläger nicht empfinden. Ihr Schmerz besteht lebenslänglich. Während die allermeisten Täter nach dem zweiten Weltkrieg in ihr „normales“ Leben zurückgekehrt sind, wie auch der Angeklagte, leiden die Opfer des Holocausts bis heute unter der Hölle von Auschwitz. So hat etwa Frau Angela Orosz Richt-Bein einprägsam berichtet, dass ihre Mutter zeitlebens Angst vor Hunden und Duschen gehabt habe. Im Alter seien die Albträume zurückgekehrt. Sie sei an einem 28. Januar gestorben. Den 27. Januar, den Tag ihrer Befreiung, habe sie unbedingt überleben wollen.

Die Nebenkläger haben uns das Grauen von Auschwitz geschildert. Ein Geschehen, dass nach menschlichem Ermessen so unbeschreiblich ist, dass es letztlich nicht in Worte gefasst werden kann. Und ihre Aussagen haben die Nebenkläger, das war für uns alle sichtbar, viel Kraft gekostet. Alte Wunden wurden aufgerissen.

Frau de Vries, Frau Bohm, Herr Schwarzbaum, Herr Glied: Ihre und die Erlebnisberichte der weiteren Nebenkläger waren immens wichtig. Nicht nur für die Entscheidung in unserem Verfahren. Sie waren auch wichtig, um uns an die Vergangenheit zu erinnern, damit sich dieser präzedenzlose Genozid nicht wiederholt.

Die einprägsamen Aussagen der Nebenkläger wird niemand von uns vergessen. Wir können nur hoffen, dass die Berichte der Nebenkläger auch Sie, Herr Hanning, nicht unberührt gelassen haben.

Unterstützung und Förderung der Haupttat durch Hanning

Der Angeklagte ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Nach dem Besuch der Volksschule war er zunächst als Fabrikarbeiter tätig. Im Sommer 1940 trat er dann freiwillig in die Waffen-SS ein. Vielleicht bestand der Anreiz für den Angeklagten darin, zu einem uniformierten, schneidigen Verband zu gehören, eine militärische Karriere zu machen, etwas Besseres zu sein, als ein Soldat der Wehrmacht, zu der er einberufen werden sollte. Nach seiner Ausbildung in Graz erfolgte zunächst der Einsatz bei der Besetzung der Niederlande und Nordfrankreichs. Danach nahm der Angeklagte beim Feldzug gegen Serbien und Russland teil, wo er schließlich im September 1941 durch Granatsplitter schwer verwundet wurde.

Als der Angeklagte nach seiner Genesung nach Auschwitz kam, wusste er vermutlich nicht, was Auschwitz war. Er ging, so hat er sich eingelassen, davon aus, dass es sich um ein Kriegsgefangenenlager handelte. Tatsächlich aber glich der gesamte Komplex Auschwitz einer Fabrik: Ausgelegt darauf, Menschen industriell zu töten. In Betrieb hielten das Konzentrationslager Auschwitz rund 7.000 bis 8.000 Männer und Frauen der SS. Vom KZ-Kommandanten wie Rudolf Höß bis zum einfachen SS-Mann. Sie arbeiteten in einer perfekt funktionierenden Maschinerie, in der ein Rädchen in das andere griff.

Eines dieser Rädchen, Herr Hanning, waren Sie.

Sie waren im Tatzeitraum in Auschwitz in der 3. Kompanie tätig. Das steht nach der Hauptverhandlung zweifelsfrei fest. Aufgabe der 3. Kompanie war es, das Stammlager zu bewachen. Das bedeutete im turnusmäßigen Wechsel die Besetzung der großen Postenkette tagsüber und der kleinen Postenkette nachts sowie die Begleitung der Außenkommandos. Hinzu kam der Bereitschaftsdienst an der sogenannten alten Judenrampe bis zur Fertigstellung der neuen Rampe in Birkenau Mitte Mai 1944.


Soweit der Angeklagte sich dahin eingelassen hat, nie an der Rampe Dienst getan zu haben, handelt es sich zur Überzeugung der Kammer um eine Schutzbehauptung. Der Sachverständige Dr. Hördler hat nach Auswertung der historischen Dokumente keine Zweifel daran gelassen, dass die 3. Kompanie Bereitschaftsdienste bei ankommenden Deportationszügen zu leisten hatte. Er konnte anhand der von ihm ausgewerteten Sturmbannbefehle konkrete Zeiten recherchieren. Und gerade bei hohen Deportationsdichten, etwa im Mai 1943 bei den Deportationen aus Griechenland oder im August 1943 bei der Räumung der polnischen Ghettos, musste aufgrund der tausenden pro Tag ankommenden Menschen jedes Mitglied der Kompanie Dienst tun. Dazu passt, dass es nach solchen sogenannten Sonderaktionen für das gesamte KZ-Personal Sonderurlaub gab, wie der Sachverständige Dr. Hördler anhand historischer Dokumente belegt hat. Dass Sie, Herr Hanning, gleichwohl niemals an der Rampe gestanden haben wollen, halten wir vor diesem Hintergrund für völlig abwegig.

Ohne die Tätigkeiten der Wachleute hätte die Massenvernichtung so nicht umgesetzt werden können. Das Wachpersonal war die funktionierende Stütze im Konzentrationslager. Es sicherte das Lagergeschehen in allen Bereichen: Von der Umstellung der ankommenden Deportationszüge, über die Begleitung der Selektierten auf ihrem Weg in die Gaskammer bis hin zur Bewachung der Gefangenen im Rahmen der Postenketten oder bei den Außenkommandos. Durch die von den schwer bewaffneten Wachleuten aufgebaute Drohkulisse wurde jeder Gedanke an Widerstand oder Flucht im Keim erstickt. Und wer doch versuchte, dem Grauen von Auschwitz zu entkommen, wurde gnadenlos erschossen. So gewährleistete jeder Wachmann, gleichgültig, an welcher Stelle er im Lager eingesetzt war, den reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung.

Eingebettet waren die Wachmannschaften in ein Korsett aus Befehlen und Gehorsam, welches die Bereitschaft zu Einspruch und Widerstand hemmte. Die insofern hier verlesenen Kommandantur- und Standortbefehle haben uns einen prägnanten Einblick in die Lebenswirklichkeit des KZ-Personals vermittelt. Die Dokumente hinterlassen einen deutlichen Eindruck. Routine und Riten bestimmten den Alltag. Gewalt wurde zum Habitus. Inhumanität war Beruf, rigorose Härte der Auftrag. Das mörderische Treiben wurde auf dem Dienstweg abgewickelt.

Diese starke Reglementierung bedeutete aber doch nicht, dass ein selbständiges Denken und Handeln nicht mehr möglich gewesen wäre. Das damalige politische System und die von ihm geprägte Weltanschauung und propagierten Werte enthoben niemanden der Selbstkritik und Selbstverantwortung. Sicherlich war die damalige Zeit durch die Naziherrschaft ideologisch geprägt. Ohne Zweifel wurde das KZ-Personal indoktriniert. Es ist richtig, dass die Gefangenen im KZ als sogenannte verbrecherische Elemente und Volksschädlinge dargestellt wurden, wie wir aus dem hier verlesenen „Unterrichtsmaterial“ über die Aufgaben und Pflichten von Wachposten in einem Konzentrationslager gehört haben.

Und trotzdem wusste ausnahmslos jeder, dass man bei dem mörderischen Treiben in Auschwitz nicht mitmachen durfte. Jedem einzelnen Mitglied des KZ-Personals war bewusst, dass die im Konzentrationslager ermordeten Menschen – insbesondere Kinder, alte und kranke Frauen und Männer – für überhaupt niemanden eine Gefahr darstellten, sondern einzig und allein aus niedrigen Beweggründen ermordet wurden.

Hanning handelte mit Vorsatz

„Ich möchte den sehen, der nicht wusste, was da passiert. Wir haben alle gewusst, dass Auschwitz ein Vernichtungslager war“. Diese Aussage des hier gehörten Zeugen Jakob Wendel hätte deutlicher nicht seien können. Aber auch aus den schriftlichen Aussagen anderer Wachleute, welche wir im Selbstleseverfahren in die Beweisaufnahme eingeführt haben, ergibt sich zweifelsfrei, dass das gesamte KZ-Personal von den Massentötungen wusste. Nichts anderes gilt für den Angeklagten. Daran hat die Kammer nach der Beweisaufnahme überhaupt keine Zweifel.

Schon durch den Austausch mit anderen Mitgliedern des Wachpersonals hat der Angeklagte von dem Morden gewusst. Davon ist die Kammer nach der Beweisaufnahme überzeugt. Der Sachverständiger Dr. Hördler hat anschaulich und plausibel ausgeführt, dass es eine enge Beziehung zwischen Kommandantur und Wachmannschaften gab, vielfach fanden Personaltransfers statt. Diese Durchlässigkeit in den Personalstrukturen führte zwanglos zu einem intensiven Austausch von Wissen, insbesondere auf Führer- und Unterführerebene. Dadurch wusste jeder konkret von dem Dienst und Aufgaben der anderen. Soweit Verschwiegenheit angeordnet war, betraf dies nur Außenstehende. Unter den Angehörigen des KZ-Personals wurde nach Dienstschluss über das Geschehen im Lager geredet und auch über Einzelheiten der Tötungen gesprochen wie etwa die Zeugen Johann Gorges und Kurt Hartmann berichtet haben. Etwas anderes anzunehmen, wäre auch lebensfremd. Das Tötungsgeschehen war doch von so herausragender Grausamkeit. Um das zu ertragen, musste man darüber reden. Auch Sie, Herr Hanning, haben mit ihren Kameraden über das Vernichtungsgeschehen gesprochen. Da sind wir uns sicher. Dadurch waren Sie, wie jeder andere auch, über das Mordgeschehen im Lager vollumfänglich informiert.

Wir sind aber auch sicher, dass Sie das Morden selbst miterlebt haben.

Herr Hanning, Sie waren knapp zweieinhalb Jahre in Auschwitz. Wir halten es für ausgeschlossen, dass Sie in dieser Zeit nicht ein einziges Mal gesehen haben, wie die ahnungslosen Deportierten in die Gaskammern geschickt wurden und dort unter furchtbaren Qualen starben. Auch wenn Sie in Birkenau selbst keinen Wachdienst zu versehen hatten und das Areal groß war: Ihre Kompanie war bis Anfang 1943 in Birkenau untergebracht. Sie haben sich, wie sich aus ihrer Einlassung ergibt, im Lagerbereich und der Umgebung frei bewegt und sich, wenn Sie etwa schildern, dass Sie sich die Rampe in Birkenau angesehen zu haben – ganz offensichtlich für die Vorgänge im Lager interessiert. Dann aber haben Sie auch die Krematorien und Gaskammer gesehen. Dann haben Sie auch die Tötung der selektieren Menschen in den Gaskammern miterlebt.

Wir sind auch davon überzeugt, dass Sie gesehen haben, wie die Menschen im Lager unter dem Hunger und den unzumutbaren Lebensumständen furchtbar gelitten haben und daran gestorben sind. Diejenigen, die zu krank oder schwach waren, um noch arbeiten zu gehen, wurden selektiert und in die Gaskammern geschickt. Selbstverständlich haben Sie auch davon gewusst. Sowohl vom Wachturm aus als auch bei der Begleitung der Außenkommandos kann Ihnen das Leiden der Gefangenen nicht verborgen geblieben sein. Dass die Menschen verhungerten, war auf den ersten Blick für jeden erkennbar. Dazu musste man, wie der Sachverständige Dr. Karger anschaulich dargelegt sein, weder Arzt noch Sanitäter sein.

Die Kammer ist sich schließlich auch sicher, dass Sie von den grausamen Massenerschießungen an der sogenannten schwarzen Wand gewusst haben. Zwar war der Hof mit hohen Mauern abgeriegelt und von den Wachtürmen aus nicht einsehbar. Das alles hat der Zeuge Kriminalhauptkommissar Willms anhand von Lichtbildern und Standbildern aus der 3-D-Animation plausibel dargelegt. Aber Sie standen eben nicht nur auf dem Wachturm, sondern haben sich, wie Sie in ihrer Einlassung eingeräumt haben, auch im Lager aufgehalten. Dass Sie gleichwohl nie den Innenhof zwischen Block 10 und 11 und die dort befindliche schwarze Wand gesehen haben, können wir uns nicht vorstellen.

Wenn der Angeklagte aber trotz dieser Kenntnis vom Vernichtungsgeschehen im Konzentrationslager dort weiterhin seinen Dienst verrichtet, sich sogar später nach seiner Versetzung in das KZ Sachsenhausen für zwölf Jahre verpflichtet, dann bringt er nach Auffassung der Kammer damit auch zum Ausdruck, dass er das Morden zumindest billigend in Kauf genommen hat. Mit seiner Tätigkeit im Konzentrationslager hat sich der Angeklagte mit den Tätern solidarisiert.

Dem steht nicht entgegen, dass der Angeklagte zu Beginn seiner Zeit in Auschwitz zwei Versetzungsgesuche gestellt haben will, die beide abgelehnt worden seien, beim zweiten Antrag habe er sogar „Ärger“ bekommen. Diese Einlassung, Herr Hanning, nehmen wir Ihnen nicht ab. Nach der Beweisaufnahme bestehen für uns keinerlei Zweifel, dass Sie sich, wenn Sie es denn gewollt hätten, zur Front hätten versetzen lassen können. Es ergibt historische Dokumente – etwa Ihre SS-Stammkarte -, die belegen, dass Sie kriegsverwendungsfähig waren. Aber selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätten Sie sich jedenfalls im Tatzeitraum jederzeit zur Front melden können. Dies hat der Sachverständige Dr. Hördler in jeder Hinsicht überzeugend geschildert. Er hat dargelegt und mit Dokumenten belegt, dass ständig Männer für die Front gesucht wurden, und zwar in großen Kontingenten, gerade ab 1943. Und eine Meldung zur Front bedeutete doch auch nicht, sich gegen die nationalsozialistische Führung und ihre Ideologie zu stellen. Im Gegenteil: Der Fronteinsatz war mit Anerkennung und Ruhm verbunden. Nicht umsonst haben Sie, Herr Hanning, in ihrer Einlassung auf Ihr Verwundetenabzeichen in Schwarz, Ihr Infanteriesturmabzeichen in Silber sowie das Ihnen verliehene Eiserne Kreuz II. Klasse hingewiesen.

Es ist also nicht so, dass Sie, Herr Hanning, keine Wahl gehabt hätten. Dass Sie sich nach ihrer schweren Verwundung an der Front für den Dienst im KZ Auschwitz entschieden haben, ist zwar nachvollziehbar, vermag Ihr Verhalten aber in keiner Weise zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. In Auschwitz durfte man nicht mitmachen. Trotzdem haben Sie sich in Kenntnis des Vernichtungsgeschehens bewusst für den Dienst im KZ entschieden. Und ganz offensichtlich haben Sie sich, Herr Hanning, durchaus mit ihrer Tätigkeit in Auschwitz arrangieren können. Denn anders ist es nicht zur erklären, dass Sie in Ihrer Zeit in Auschwitz zweimal befördert wurden. Das kann aus unserer Sicht nur bedeuten, dass Sie sich als willfähriger und effizienter Gefolgsmann bei der Tötungsarbeit bewährt hatten.


Für die Kammer bestehen schließlich auch keine Zweifel, dass Sie selbstverständlich wussten, dass Sie mit Ihrer Tätigkeit als Wachmann den reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung förderten. Ihnen war die ganze Zeit klar, dass ohne die von Ihnen und den anderen Wachleuten unterhaltene Drohkulisse das Morden in dieser Form nicht hätte stattfinden können. Auch das haben Sie zumindest billigend in Kauf genommen.

Herr Hanning, Sie haben zweieinhalb Jahre dabei zugesehen, wie tausende der deportierten Menschen in den Gaskammern ermordet wurden. Sie haben dabei zugesehen, wie die Menschen vor ihren Augen verhungert oder vor Erschöpfung gestorben sind. Sie haben dabei zugesehen, wie Menschen erschossen wurden. Dem haben Sie nichts entgegen gesetzt. Stattdessen haben Sie Dienst nach Vorschrift gemacht. Das ist ihre individuelle Schuld.

Ertragen haben Sie Ihren Dienst vermutlich nur, indem Sie sich einredeten, mit den Tötungen direkt nichts zu tun zu haben. Verantwortlich dafür seien die „Großen“ in Berlin. Sie würden nur gehorsam die Befehle ausführen.

Herausgehobene Funktion des Angeklagten

Sicherlich kann nicht jeder, der irgendwie im Konzentrationslager Auschwitz tätig war, für alles, was dort geschah, verantwortlich gemacht werden. Die Grenze zwischen – strafloser – Mitwisserschaft, Beihilfe und Mittäterschaft ist mit fließenden Übergangen versehen. Es ist aber nicht Aufgabe der Kammer, abstrakt festzulegen, welche Tätigkeiten im KZ Auschwitz strafbar sind und welche nicht, wir haben allein den Angeklagten zu beurteilen. Und dieser hat nach unserer Auffassung die Tötungsmaschinerie in strafrechtlich relevanter Weise gefördert.

Herr Hanning, Sie waren eben nicht nur der einfache Wachmann, Ihnen kam vielmehr eine Schlüsselfunktion zu. Sie gehörten, da ist sich die Kammer aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Hördler sicher, zu einer Kerntruppe um den damaligen Kompaniechef Stoppel. Dieser hat ganz bewusst Männer mit ähnlicher Vita und vergleichbarer Sozialisation um sich geschart. Diese „Peer-Group“ oder Kohorte, wie sie der Sachverständige Dr. Hördler bezeichnet hat, besaß nicht nur gegenüber den sogenannten Volksdeutschen, den sonstigen fremdvölkischen Hilfskräften und den Wehrmachtssoldaten eine hervorgehobene Stellung, sondern auch innerhalb der SS-Männer selbst. Ostentativer Ausdruck dieser Sonderstellung war u.a. das im KZ untersagte demonstrative Tragen alter Divisionsabzeichen und militärischer Auszeichnungen. Ein entsprechendes Lichtbild existiert auch von dem Angeklagten, wir haben es im Rahmen der Hauptverhandlung in Augenschein genommen.

Mit der Zugehörigkeit zur Kerntruppe Stoppel war für den Angeklagten nicht nur eine sehr gute Kenntnis über die Vorgänge im Lager verbunden, sondern auch eine besondere Befehlsgewalt. Gemeinsam mit anderen fronterfahrenen SS-Männern, die er teilweise schon seit der Ausbildung und von gemeinsamen Kriegseinsätzen kannte, bildete der Angeklagte das Rückgrat des Wachpersonals. Er hatte eine herausgehobene Stellung in der KZ-Hierarchie.

Herr Hanning, Sie waren in wichtiger Funktion im Konzentrationslager Auschwitz tätig. Mit ihrer Wachtätigkeit haben Sie für einen reibungslosen Ablauf der Vernichtungsmaschinerie gesorgt. Damit haben Sie zur Ermordung von mindestens 170.000 unschuldigen Menschen beigetragen. Dafür sind Sie strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Abgrenzung zur Mittäterschaft

Eine Verurteilung als Mittäter kommt allerdings nicht in Betracht.

Zunächst können wir schon nicht sicher feststellen, dass der Angeklagte nach seiner Beförderung zum Unterscharführer Zugführer war. Der Sachverständige Dr. Hördler hat hierzu keine sicheren Feststellungen treffen können, nach seinen Recherchen wurden die Unterscharführer sowohl als Gruppen- als auch als Zugführer eingesetzt. Zwar hat Herr Hanning sich in seiner Einlassung selbst als Zugführer bezeichnet, die von ihm beschriebene Tätigkeit zeichnet aber gerade die Aufgabe eines Gruppenführers nach.

Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass der Angeklagte jedenfalls nach seiner Beförderung als Zugführer einen nicht unwesentlichen Tatbeitrag geleistet hat, rechtfertigt dies keine Verurteilung als Mittäter. Denn wir können nicht feststellen, dass der Angeklagte die insofern erforderliche Tatherrschaft hatte. Auf die eigentlichen Tötungsvorgänge, d.h. die Ermordung der Selektierten in den Gaskammern, die Zustände im Lager und die Massenerschießungen konnte er keinen Einfluss nehmen. Insofern war sein Tatbeitrag von untergeordneter Bedeutung. Es ist auch kein eigenes Interesse des Angeklagten am Taterfolg feststellbar, insbesondere haben sich im Rahmen der Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Angeklagte im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie an der „Endlösung“ mitwirken wollte. Wenn man sich die Eckpunkte seine beruflichen Laufbahn ansieht – Juni 1940 freiwillige Meldung zur Waffen-SS, Februar 1943 Beförderung zum Rottenführer, September 1943 Beförderung zum SS-Unterscharführer – mag dies vielleicht nicht fernliegend erscheinen. Auf eine bloße Vermutung können wir aber keine Verurteilung stützen. Der Angeklagte war vielmehr wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen.

Tateinheitliche Beihilfe zum Mord

Diesbezüglich ist in diesem Prozess die Frage aufgeworfen worden, ob es sich bei dem Vernichtungsgeschehen in Auschwitz rechtlich um eine Haupttat oder eine ganze Serie von Tötungsdelikten handelt. Oder aber, ob innerhalb dieser Bandbreite verschiedene Tatkomplexe – etwa die Bewachung des Stammlagers, die Ungarn-Aktion oder ähnliches – zu bilden sind, wie es die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage getan hat.

Grundsätzlich liegt nach der Rechtsprechung immer dann eine Tat im Rechtsinn vor, wenn sich das gesamte rechtsgutverletzende Handeln des Täters bei natürlicher Betrachtung auch für einen Dritten als Einheit darstellt. Das setzt einen einheitlichen Tatentschluss und einen unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang voraus. An diesem Maßstab gemessen spricht nach Ansicht der Kammer viel dafür, die „Endlösung der Judenfrage“ als Tatentschluss für den Betrieb des Vernichtungslagers Auschwitz anzusehen und somit das gesamte dortige Vernichtungsgeschehen rechtlich als eine Haupttat werten.

Allerdings kommt es für die Entscheidung in diesem Rechtsstreit nicht darauf an, ob die Haupttäter die Morde tateinheitlich oder tatmehrheitlich begangen haben. Wir können diese Frage offen lassen. Denn wir müssen ganz konkret auf die Person des Angeklagten abstellen. Insofern hat der Bundesgerichtshof in seiner aktuellen Rechtsprechung Folgendes ausgeführt:

Sind an einer Deliktserie mehrere Personen als Mittäter, mittelbare Täter, Anstifter oder Gehilfen beteiligt, ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen, bei jedem Beteiligten gesondert zu prüfen und zu entscheiden. Maßgeblich ist dabei der Umfang des erbrachten Tatbeitrags. Leistet ein Beteiligter für alle oder einige Einzeltaten einen individuellen, nur je diese fördernden Tatbeitrag, so sind ihm diese Taten – soweit keine natürliche Handlungseinheit vorliegt – als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen. Fehlt es an einer solchen individuellen Tatförderung, erbringt der Tatbeteiligte aber im Vorfeld oder während des Laufs der Deliktserie Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Einzeltaten seiner Tatgenossen gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen, da sie in seiner Person durch den einheitlichen Tatbeitrag zu einer Handlung im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB verknüpft werden. Ohne Bedeutung ist dabei, ob die anderen Tatbeteiligten die einzelnen Delikte tatmehrheitlich begangen haben.

Übertragen auf diesen Fall bedeutet dies: Wir können zwar nicht feststellen, dass der Angeklagte an einzelnen Tötungshandlungen unmittelbar beteiligt war. Wir wissen nicht, ob der Angeklagte bei den Tötungen in den Gaskammern aktiv mitgewirkt hat. Wir wissen nicht, ob er selbst Gefangene erschossen hat. Darauf kommt es jedoch nicht an. Dem Angeklagten wird ja gerade nicht zur Last gelegt, zu einigen Morden einen individuellen, allein diese Einzeltaten fördernden Tatbeitrag erbracht zu haben, sondern während seiner Anwesenheit im Konzentrationslager Auschwitz durch seine dortige Tätigkeit zu sämtlichen in diesem Zeitraum begangenen Haupttaten Beihilfe geleistet zu haben. Seine gesamte Tätigkeit als Wachmann war, gerade auch aus Sicht des Angeklagten selbst, dadurch gekennzeichnet, dass er das Vernichtungsgeschehen insgesamt und damit eine Vielzahl von Tötungen förderte. Das ist rechtlich als Beihilfehandlung zum Mord zu werten.

Die Beihilfe zu einem insofern vorliegenden Massenmord ist dem Strafgesetzbuch auch nicht fremd. Ein solcher Kollektivschutz findet sich heute in Art. 6 des Völkerstrafgesetzbuchs. Auch wenn diese Norm im vorliegenden Verfahren keine Anwendung findet, kann der hinter der Vorschrift stehende Rechtsgedanke – der Schutz der sozialen Existenz einer verfolgten Gruppe als überindividuelles Recht – nach Auffassung der Kammer zur Beurteilung der Frage, ob mit Rücksicht auf den örtlichen und räumlichen Zusammenhang der Tötungsdelikte noch eine hinreichend bestimmte Tat vorliegt, herangezogen und im vorliegenden Verfahren bejaht werden.

Strafzumessung

Eine gerechte Strafe für die Beihilfehandlung des Angeklagten zu finden, das überfordert jedes Gericht. Es gibt keine angemessene Strafe. Die Gräueltaten waren so furchtbar, dass jede Teilnahme, selbst wenn sie nur von untergeordneter Bedeutung war, nicht hoch genug bestraft werden kann. Insofern erscheint die gesetzliche Strafandrohung, die für Beihilfe zum Mord eine Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren vorsieht, auch nicht angemessen. Gleichwohl ist es der von uns anzuwendende Strafrahmen. Und natürlich müssen auch in diesem Verfahren, wie in jedem anderen Prozess auch, die allgemeinen Strafzumessungsgründe wie etwa das Alter und der Lebensweg des Angeklagten, seine Beweggründe und Gesinnung, sein Verhalten nach der Tat und der Zeitablauf nach der Tatbegehung Berücksichtigung finden.


Bei der konkreten Strafzumessung hatten wir ganz allein auf die individuelle Schuld des Angeklagten abzustellen, wir können und dürfen ihn nicht symbolisch für alle Täter des Holocaust zur Rechenschaft ziehen. Für die Bemessung der Strafe darf es ferner keine Rolle spielen, ob der Angeklagte die zu verhängende Freiheitsstrafe wird verbüßen müssen. Das ist allein eine Frage der Strafvollstreckung.

Zugunsten des Angeklagten hat die Kammer zunächst sein Geständnis berücksichtigt. Zudem hat der Angeklagte sich persönlich für sein Verhalten entschuldigt und damit gezeigt, dass er zu seiner Schuld steht und Verantwortung für sein Tun übernehmen will. Hat der Angeklagte damit auch ehrliche Reue gezeigt?

Richtig ist sicher, dass seine Beschreibung des Vernichtungsgeschehens der eines distanzierten Zuschauers glich. Vielleicht war der Angeklagte aber zu mehr einfach nicht in der Lage. Insofern darf man nicht vergessen, dass das Geschehen mehr als siebzig Jahre zurückliegt. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1948 hat der Angeklagte seine furchtbaren Erinnerungen an Auschwitz verdrängt, mit niemanden über seine Tätigkeit im Vernichtungslager gesprochen. Siebzig Jahre lang hat der Angeklagte sein Leben mit seiner Schuld eingerichtet. Bis er sich im hohen Alter von 93 Jahren unerwartet mit seiner Vergangenheit konfrontiert sah, und zwar im Rahmen eines Strafverfahrens mit einem ganz erheblichen öffentlichen und medialen Interesse. Konnte oder wollte der Angeklagte in dieser Situation nicht mehr zu seiner Tätigkeit in Auschwitz sagen? Kann er sich heute konkret wirklich nur noch an Begebenheiten erinnern, die ein positives Bild von ihm zeichnen? Wenn er die Nebenkläger bei der Schilderung ihrer Leidensgeschichten nicht ansah, war dies Ausdruck von Missachtung, so wie von den Nebenklägern empfunden? Oder war der Angeklagte mit der Situation schlicht überfordert, schämte er sich vielleicht sogar? Herr Hanning, nur Sie selbst können diese Fragen beantworten. Die Kammer kann dies nicht. Wir haben im Rahmen der Hauptverhandlung keine Möglichkeit gehabt, den Menschen Reinhold Hanning wirklich kennen zu lernen.

Zugunsten des Angeklagten haben wir weiter berücksichtigt, dass er zur Tatzeit noch sehr jung, lebensunerfahren und durch den Nationalsozialismus geprägt war.

Strafmildernd war ferner zu berücksichtigen, dass die Tat mehr als siebzig Jahre zurückliegt und der Angeklagte nicht vorbestraft ist. Auch das hohe Alter des Angeklagten und die daraus resultierende hohe Strafempfindlichkeit waren strafmildernd zu berücksichtigen. Zudem muss der Angeklagte mit Blick auf die in Artikel 1 Grundgesetz verbürgte Menschenwürde zwar nicht die Gewissheit, aber doch zumindest die Chance haben, zu Lebzeiten aus der Haft entlassen zu werden.

Schließlich kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass dieser Prozess und die mit ihm verbundene öffentliche und mediale Aufmerksamkeit für einen 94 jährigen Angeklagten eine Belastung darstellt. Auch wenn sich der Angeklagten in der Hauptverhandlung überwiegend teilnahmslos gezeigt hat, sind wir sicher: Das Verfahren hat ihm zugesetzt, hiervon wird er sich vermutlich nicht mehr erholen.

Zu Lasten des Angeklagten musste sich demgegenüber das gesamte Tatbild auswirken. Die Massenermordung von Kindern, Frauen und Männern im KZ Auschwitz stellt ein unfassbares und einzigartiges Verbrechen dar. Strafschärfend waren ferner die große Zahl der Opfer sowie die Folgen für die Angehörigen der Opfer, die bis heute unter dem Verlust ihrer Familien leiden, zu berücksichtigen.

Bei Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte erscheint der Kammer eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren tat- und schuldangemessen. Eine geringere Strafe würde der Schuld des Angeklagten nicht mehr gerecht werden.

Keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Die Kammer ist nicht der Auffassung, dass ein Teil dieser Freiheitstrafe wegen des Vorliegens einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für vollstreckt zu erklären ist. Richtig ist zwar, dass die Strafverfolgungsbehörden nach Ende des zweiten Weltkrieges über Jahrzehnte untätig geblieben sind und nunmehr mehr als 70 Jahre vergangen sind. In dieser Zeit ist jedoch niemals gegen den Angeklagten ermittelt worden. Er war damit keiner fühlbaren Belastung ausgesetzt. Ganz im Gegenteil: Er konnte sein Leben ohne Angst vor einem Strafverfahren und einer Strafe führen.

Schlussbemerkung

Herr Hanning, Sie haben sich vier Monate lang diesem Verfahren gestellt, das verdient Anerkennung. Mit Ihrem Geständnis und Ihrer Entschuldigung haben Sie einen ersten Schritt zur Bewältigung Ihrer Vergangenheit getan. Nach Ende dieses Strafverfahrens liegt es jetzt allein an Ihnen, wie Sie weiter mit ihrer Schuld umgehen wollen.

Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention lautet: Jede Person hat ein Recht darauf, daß über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.