Auf Abitur steht Strafe

Frühjahr 1939. Schule. Artige Mädchen in dunkelblauen Schulkitteln, die Taschen vollgespickt mit Büchern. Daneben das zweite Frühstück, von der Mutter sorgfältig in eine Serviette gewickelt. Ein Brötchen mit Butter, belegt mit Käse oder Wurst, ein Apfel. Nach der Schule Hausaufgaben, Pfadfindertreffen, auf dem Sportplatz Ballspiele. Dem Freund werden die Schuhe mit den hohen Absätzen gezeigt.
Der Herbst bringt Veränderungen (Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurde im gesamten Generalgouvernement der Besuch der höheren Schule für polnische Kinder verboten).
Anstelle der Schule heimlich Gruppenunterricht in ungeheizten Privatwohnungen. Dann in den Nächten zu Hause lernen, im Licht einer schwachen Glühbirne. Anstelle der vollgestopften Schultasche dünne Hefte, unter dem Busen versteckt. Anstelle eines knusprigen Brötchens fades Brot. Und nicht einmal für alle. Die einen genieren sich, daß sie essen, daß sie hungrig sind. Die anderen vermeiden es, auf das Brot zu schauen. Versichern mit Nachdruck, sie seien satt.
An manchen Tagen verlassen Schüler den Unterricht, um Zeitungen zu verteilen, verschlüsselte Meldungen oder Waffen von einem >heißen< Ort wegzuschaffen. Die Lehrerinnen fragen nicht nach dem Grund, wenn jemand den Unterricht schwänzt. Sie ahnen ihn. Es beginnt die Zeit der Konspiration. Die Härte der ungeheizten Wohnungen und leeren Vorratsschränke. Die Straßen voller feldgrauer Uniformen. Plakatierte Befehle und Verbote. Abschreckungslisten mit den Namen von Erschossenen.
Als sich der Tag unserer mündlichen Reifeprüfung nähert, gibt man uns die Adresse der Wohnung unserer Schulfreundin Janka Gut in der Sniadecka-Straße. Die Straße ist nicht groß, ruhig gelegen. Wir sind sechs Prüfungskandidaten und eine ebenso große Prüfungskommission. Den Rat befolgend gehen wir einzeln, aber jeden Bekannten, den wir unterwegs treffen, bitten wir, uns den Daumen zu drücken.
Ich weiß nicht, ob es ein Zufall ist oder ob wir schon früher beobachtet worden sind. Auf jeden Fall wird genau in dem Moment, als ich in Latein geprüft werde, gegen die die Tür geschlagen, und zwar gleichzeitig gegen die Eingangs- und Küchentür. Im selben Moment dringen drei uniformierte Gestapoleute ins Zimmer ein, begleitet von einem Dolmetscher in Zivil.
Wir müssen uns alle mit erhobenen Händen an die Wand stellen und dann wird die Wohnung durchsucht. Die Lehrerinnen glauben, daß nur sie festgehalten werden. Aber nach der Hausdurchsuchung stellt man uns zu je zweien auf und führt uns alle aus dem Haus. Als wir das Tor passieren, bemerke ich das Gesicht von Ninka Januszewicz, die in demselben Haus wohnt, aber einen anderen Tag als Prüfungstermin bekommen hat.
Nach zwei Tagen Gefängnis beginnen die Lehrerinnen, die Prüfungen fortzusetzen. Wir rechnen damit, nach Deutschland deportiert zu werden. Und glauben, der Krieg werde ein bis zwei Jahre andauern, so daß es für uns schwer sein würde, die für eine Reifeprüfung notwendigen Kenntnisse später zu erneuern.
Bei den gemeinsamen Spaziergängen im Gefängnishof ist die einzige Gelegenheit, wo die Lehrerinnen und wir Schüler zusammentreffen. Und dort, auf dem Hofraum des Frauengefängnisses, während vor mir die Direktorin geht, neben und hinter mir zwei andere Lehrerinnen, lege ich die Reifeprüfung ab.
Das geschieht tagsüber. Aber nachts, wenn vom Warschauer Ghetto Schüsse zu uns herüber dringen, wenn im Gefängnis Menschen erschossen werden, wenn irgendwann eine Häftlingsfrau unter Schreien und Schmerzen ein Kind gebärt – dann überkommt uns Angst vor der Zukunft.

Hier Radio Majdanek

Neben der Bank hockend, auf der Ewa und Mata sitzen, zittern wir ein wenig vor Kälte. „Mädchen“, sagte Ewa, „wir wollen euch vorschlagen, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir wollen hier ein kulturelles Leben organisieren. Vielleicht irgendwelche Vorträge“.
Etwas gelangweilt höre ich zu. Plötzlich fällt das Wort >Radio< , und reißt mich aus meinen Gedanken. „Radio“, frage ich überrascht. „Ja natürlich“, lacht Mata mit strahlendem Gesicht wegen des Einfalls. Dann hätten wir Nachrichten und etwas Stimmung. Wir haben doch enorme Möglichkeiten, so viele Talente, so viele verschiedene Frauen.
„Na gut, aber was wird das für ein Radio sein?“ unterbricht die wegen ihrer Sachlichkeit bekannte Ala. Das wird ein Radio sein, das wir uns einbilden werden. Und du, Danusia, wirst du Ansagerin sein. Aus Verlegenheit und wohl auch wegen der Auszeichnung werde ich krebsrot im Gesicht. Ich widerspreche, weise auf meine fehlende Qualifikation hin, aber Mata gibt nicht nach. Sie setzt sich neben mich und schon beraten wir die heutige Sendung.
Später dann fällt mein erstes unsichereres: „Hallo, Hallo!“ Ich unterbreche, halte die Luft an. In der Baracke herrscht tiefe Stille. „Hier Radio Majdanek“, fahre ich fort und spreche mit trockenem Mund die vorbereitete Sendung. Dabei knie ich unbequem auf der Pritsche, den Kopf direkt unter der Barackendecke. Plötzlich knarrende Geräusche der Pritschen, Fragen. Bitten um Ruhe und wieder Stille. Meine Stille, eine Stille, die mir gilt. Ich berichte über unser neu erstandenes >Radio<, über den Charakter des Lagers, über die SS-Organisation und über das Schicksal, das uns erwartet. Während ich spreche, denke ich intensiv darüber nach, wie ich diese trockenen Berichte abschließen, mich für die Aufnahme, das Zuhören bedanken kann. „Gute Nacht, meine Damen. Morgen wird es besser,“ sage ich. Stille. Und dann folgt das Ave Maria. Lange kann ich nicht einschlafen, versuche, mir in Erinnerung zu rufen, was ich gesprochen habe. Vergeblich. Endlich schmiege ich mich an die warme Dania und schlafe müde ein.
Die Sendung am nächsten Morgen beginnt mit einem fast echten Hahnenschrei. Den macht Hela Konca und danach folgt mein: „Guten Morgen, meine Damen.“ Von diesem Tag an drängt es uns nach dem Abendappell nicht mehr wie sonst in die Betten, um uns so schnell wie möglich hinzulegen, die Augen zu schließen und vor dem Einschlafen mit den Gedanken in die Vergangenheit zu schweifen. Wir setzen uns unter die Funzel, die von der Decke herunterhängt. Ich schreibe auf organisierten Papierfetzen mit großem Eifer, frage und schreibe wieder. So entstehen unsere Sendungen. Dabei muß ich sehr sparsam schreiben, denn der erste Entwurf ist das einzig bleibende Manuskript, für eine Reinschrift fehlt das Papier. Am nächsten Sonntag, dem 16. Februar 1943, beginne ich am Nachmittag mit Hilfe eines angeblichen Mikrofons mit der ersten Vespersendung. (Diese Sendung wurde von aus dem Lager herausgeschmuggelten Kassibern abgeschrieben).

>Hallo, hallo! Hier ist die neu eröffnete Rundfunkstation Majdanek. Guten Tag. Meine Damen. Um das Leben in unserer Stadt zu verbessern und es angenehmer zu gestalten, wurde heute ein Hörerbriefkasten eingerichtet. Der Hauptsender befindet sich auf dem Kittchen-Platz, andere Sender befinden sich im Bau. Wir bitten Sie, den Radioempfänger während der Sendung nicht auszuschalten. Störungen und Unzulänglichkeiten während der Sendung sind auf die ungünstige Atmosphäre zurückzuführen. Das vorläufige Programm beginnen wir um fünf Uhr mit dem Wecken und einem Gebet. Es wird mit den Abendnachrichten beendet. Wir haben einen Frage- und Beschwerdekasten eingerichtet und bitten um Ihre Beteiligung. Wo sich der Kasten befindet, werden Sie alsbald erfahren. Liebe Radio Hörerrinnen, wir bitten Sie um Mitwirkung bei der Programmgestaltung. Bitte holen Sie die schönen Telefunken-, Philips- und Capelle-Radiogeräte aus den Kellern, Erd- und anderen Verstecken. Wir befinden uns jetzt auf einem anderen Planeten, Majdanek genannt, und nichts mehr kann uns hier drohen. Das Radio war, ist und wird im zwanzigsten Jahrhundert die kulturell wichtigste Einrichtung im Bereich der Unterhaltung sein.
Beginnen wir also!
Wir bringen den Wochenbericht Nummer eins.
Montag.
Zum sechsten Mal wurden wir mit dem Rest unserer königlichen Habe in einen anderen Block verlegt. Wir wohnen jetzt in der Baracke drei.
Dienstag.
Ohne Veränderungen.
Mittwoch.
Da zu erwarten ist, daß unsere Gestalten durch die Majdanek-Verpflegung Rundungen bekommen, ordneten die höheren Stellen am Mittwoch das Tragen der schlank machenden graublauen Kleider und ebenso das Tragen von handgewebten Flanelljacken an. Unsere Damen fühlen sich in der Streifenkleidung ausgezeichnet. Sie tragen sie mit angeborenem Charme und mit Eleganz. Die Köpfe der Damen schmücken jetzt französische Kappen, Schleierhüte mit großen Narbenmustern sowie Tücher, ja sogar Brautschleier. Die vornehmen Holzschuhe verleihen den entzückenden Beinen unserer Damen eine besondere Eleganz. Der letzte Modeschrei sind die Majdanek-Strümpfe {Kaiser}, dabei wirkt es besonders elegant, wen links ein roter, rechts aber ein gelber Strumpf getragen wird. Damit schließen wir die Modeberatung.
Donnerstag.
Die Losung des Tages: Arbeit macht die Völker reich. Zwei Abteilungen wurden ins Leben gerufen, die Reinigungsanstalt Majdanek, offiziell Hofkolonne genannt, sowie der innere Ordnungsdienst, amtlich als Stubendienst bezeichnet. Oh Wunder, eine Belohnung in Gestalt einer großen Scheibe Brot bekamen wir für die mühevolle Arbeit in diesen Dienstag. Die Belohnten nahmen sie mit großer Begeisterung, die Übergangenen mit weniger Freude entgegen.
Freitag.
Der Tag steht unter dem Zeichen von Sauberkeit. Angeworben wurden auf dieser Grundlage noch vierzig Zwangs-Anhängerinnen, die zur sofortigen Arbeit in der Wäscherei verpflichtet worden sind.
Samstag.
Der Tag verging unter dem Zeichen >normaler< Arbeit und einem neuen Kommando. Mit Freude wurde die Nachricht über die Ablösung des Kochs und die Zuteilung von Schuhkarten aufgenommen. Aus diesem Grunde sind in den Straßen der Stadt Majdanek Damen anzutreffen, die mit Hilfe eines Keilabsatzes und eines Wiener Absatzes Pflaster treten oder die angewehte Lubliner Tonererde festtrampeln. Achtung! Auf dem Kittchen-Platz wurde zu Ehren des neuen Feuergottes in Gestalt des Ofens Nummer zwei ein neuer Obelisk errichtet.
Sonntag.
Durch den Gang zur Arbeit wurde die Sonntägliche Langeweile unterbrochen. Wie uns mitgeteilt wird, sind die Bedingungen im Frauenlager viel erträglicher als im Männerlager, obwohl das Schlagen mit der Peitsche, das Treten und das Schießen auf Häftlinge ein alltäglicher Anblick ist.
Damit beenden wir den Wochenbericht Nummer eins. Lassen Sie uns jedoch die unangenehmen Gedanken vertreiben und uns sagen.
Morgen wird alles besser sein.<

Das Elend hat längst eine Kruste gebildet

Neben Rindfleisch ist vorübergehend eine Wohnung frei, die für Dr. Blanke bestimmt ist, bei dem ich aufräumen soll. Vorläufig benutzen wir diese Zimmer, um uns auf der Suche nach Alleinsein, das wir so sehr brauchen, zu verstecken. Aber sobald in der Baracke für Augenblicke Ruhe einkehrt und ich nicht die sich tummelnden Mädchen hören kann, überkommt mich doch Angst. Ich laufe dann heraus und rufe laut nach Regina, um mich in ihre fürsorglichen Arme zu stürzen. Die Deutschen haben ihr Ziel erreicht, ich habe eine nicht enden wollende Angst vor ihnen. Aber sie haben es nicht geschafft, daß sich Häftlinge gegenseitig misstrauen. Im Gegenteil. Die uns verbindenden herzlichen Bande werden jeden Tag stärker. Wir sind stark, mutig, können lachen, aber das nur zusammen, in der Gemeinschaft.

Das Feld V füllt sich mit Zugängen aus den Gefängnissen und den Ghettos. Unser Stubenmädchen-Kommando (Danuta Medryk war zeitweilig im sogenannten Stubenmädchen-Kommando tätig, daß tagsüber im Kommandanturbereich arbeitete und eine größere Bewegungsfreiheit als andere Häftlinge hatte.) hat sich verändert, denn anstelle der drei entlassenen Prostituierten kamen drei andere Häftlingsfrauen. Den Kontakt zu unseren früheren Kameradinnen können wir aufrechterhalten, weil wir die Möglichkeit haben, uns im Lager zu bewegen. Überall begleiten uns zwar Posten, aber sie sind unterschiedlich und von ihrer Einstellung zu den deutschen Behörden hängt es ab, ob sie die Bewachung strenger oder großzügiger ausüben.

Hanka Fularska hat nach mir die Funktion der Sprecherin bei den Morgensendungen übernommen. Radiosendungen. Vorträge über polnische Literatur, Sprach- und Stenographiekurse – das alles findet in einer dem Schlaf entrissenen Stunde am Sonntagnachmittag statt, wenn nicht gearbeitet wird. Immer öfter hört man Diskussionen beim Arbeiten mit dem Spaten, dem Schubkarren, beim Scheuern der Fußböden oder beim Ausbessern und Waschen der deutschen Wäsche.
Unwillkürlich werden so fast alle Frauen mit hineingezogen, und auf diese Weise festigen sich oft unbemerkt die uns verbindenden Bande immer enger, wächst der organisierte Widerstand gegen die Macht der Deutschen immer stärker. Die Angst davor, in einer unserer sogenannten Rundfunksendungen bloßgestellt zu werden, führt dazu, daß immer seltener Diebstähle vorkommen. Der Wunsch, den eigenen Namen als Sprecherin genannt zu hören, vergrößert die Hilfsbereitschaft der Frauen.

Im Lager sind mehrere Aufseherinnen angekommen. Jede von ihnen bekommt von uns gleich einen Spitznamen, sofern sie nicht schon einen aus einem anderen Lager mitgebracht hat. Luise Danz macht anfangs den Eindruck, als wäre sie in die Bande der ordinären Deutschen nur zufällig hineingeraten. Steckte man sie in Häftlingskleider, sähe sie mehr so aus wie eine von uns. Sie ist schlank, hübsch, hat etwas kantige männliche Bewegungen und ziemlichen Humor. Aber nach einem Monat ist auch sie verändert. Zunächst nur in ihrem Verhalten, in ihrem Witz und Lächeln. Später hält sie Häftlinge an, stellt ihnen ein Bein und tritt sie. Das alles betrachtet sie als Vergnügen. Luise Danz macht bald nicht mehr den Eindruck eines Fräuleins mit >Kinderstube<, sie ist ordinär, wie die anderen. Wie kommt das? Ist es das Gefühl der Macht über die Häftlinge oder die Bereitschaft, sich dem Niveau der anderen deutschen Frauen anzupassen?

Bei Selektionen überprüfen SS-Leute mit Hunden, ob alle jüdischen Frauen die Baracke verlassen haben. Sie durchsuchen die Pritschen, aber zum Glück achten sie mehr darauf, ob die Strohsäcke glatt sind. Wenn sie eine Ausbuchtung entdecken, bedeutet es, daß entweder die Pritsche schlecht gemacht ist oder daß sich dort eine Frau oder ein Kind versteckt. Aus diesem Grunde legen sich die versteckten Personen flach auf die dritte Etage der Pritschen, die sich in den Ecken der Baracken befinden und werden von Polinnen mit fast leeren Strohsäcken und mit Decken zugedeckt. Es ist leichter, Kinder zu verstecken, denn sie sind schmächtig und abgemagert und können, von tragischen Erfahrungen gelehrt, stundenlang ohne jede Bewegung liegen.

Ich habe jetzt eine andere Methode, Nachrichten von zu Hause, Fotos und Medikamente zu bekommen. Es ist der sogenannte >Bodensatz<. Diese Methode ist wohl in ganz Majdanek bekannt. Es handelt sich dabei ganz einfach um eine Schachtel mit doppelten Boden. Die Schachtel, in der sich ein Kassiber befindet, ist mit einem Kreuz, einem Punkt oder einem anderen Zeichen versehen, daß den Augen der SS-Männer entgeht, das aber von einem Häftling bestimmt gesehen wird.
Zwar schütten die Deutschen die Lebensmittel aus den Päckchen auf ein hochgehobenes Häftlingskleid, sie schütten Zucker und Salz zusammen, Butter mit Zwiebeln, aber manchmal, wenn das Glück mitspielt, gelangt der Kassiber in die Hände des Empfängers.

Die kleinen Straßen zwischen den Baracken der Kommandantur sind mit Steinen und Resten von Baumaterialien vollgeschüttet. Hierher kommen Häftlingskommandos, sie arbeiten in Eile, werden gestoßen und geschlagen. Sie schauen uns mit müden Augen an und suchen Trost und Hilfe. Von morgens bis abends hört man die Schreie der SS-Männer, das Klappern der Holzschuhe und das Pfeifen des Kapos.
Wenn dann dieser Teil des Lagers Mittagspause hat, schlüpfen wir durch den Küchenausgang nach draußen und werfen uns in einen Busch von Wucherpflanzen und scharfem Gras, in dem gelbe Gänsedisteln blühen, die wie verlorene Schulfarbstifte aussehen. Wir liegen schweigend, ohne die Köpfe zu heben, damit wir nicht von den Deutschen gesehen werden, und atmen den scharfen Kräuterduft ein.
Ich erinnere mich an – doch irgendwo noch existierende – Wiesen mit vollem weichem Gras, Butterblümchen und fransigen, berauschenden, wilden, lilafarbenen Nelken, zwischen denen Bienen und Hummeln summen.

Die erste Flucht hatten Ziuna Sternalska und Basia Wasiak geplant. Sie versuchten, in die Wand der Wäscherei der SS-Männer, an der Wäscheregale standen, ein Loch zu hauen. Sie machten das bis zum Appell, das Klopfen wurde mit Singen und Lachen übertönt. Auch wir wurden in diese Tätigkeit miteinbezogen. Von einem Reichsdeutschen aus Lotz, einem in der Kommandantur arbeitenden Unteroffizier, hatten wir erfahren, daß sich die große Postenkette schon bei Eintritt der Abenddämmerung entfernt. An ihrer Stelle treten Soldaten mit Hunden, aber in einer geringeren Zahl, die vor allem alle Ausgänge des Lagers bewachen. Hinzu kommen die Scheinwerfer, die alle Augenblicke einen grellen Lichtschein in die verschiedenen Ecken der Häftlingsfelder werfen, die Schreckschüsse oder auch gezielte Schüsse, die Maschinengewehre und Alarmsignale, na und die Drahtzäune. Aber wir unterlassen den angefangenen Durchbruch in der Wäscherei, weil wir schon einen anderen, leichteren Plan haben. Die Flucht durch die Toilette. Die Bretter sind lose, man kann sie zur Seite schieben, dann folgt nur noch die Reihe des nicht stromgeladenen Drahtzaunes, das Gelände des Bauhofes und die Landstraße.
Wir knüpfen Kontakte zu in Freiheit befindlichen Bekannten von Regina, die uns versprechen, zu einem verabredeten Zeitpunkt mit einem Dienstfahrzeug vorzufahren. Wir machen Proben und stellen dabei fest, daß die Flucht möglich und nicht schwer ist, man muß nur an >etwas Glück< glauben.
Aber eines Tages, als wir nach der endgültigen Generalprobe das Datum bestimmen sollen, ruft uns Ziuna zum Fenster. Auf der Straße gehen Deutsche, die zwischen sich zwei alte Menschen führen. Die Frau, deren Haar zerzaust ist, mit Spuren von Schlägen, stolpert bei jedem Schritt. Die Fußtritte der Soldaten lassen sie wieder hochkommen, die zitternden Hände des Mannes schützen sie.
Sie schauen in unsere Richtung, so als erhofften sie Hilfe. Vielleicht halten sie uns für deutsche Frauen, die herauslaufen, um für sie einen Augenblick zum Verschnaufen zu erbitten? Wir stehen hilflos da und schauen mit Tränen in den Augen auf diese Geiseln. Wir vermuten, daß es sich hier um die Familie des gestern Geflüchteten handelt. Lohnt es, die Freiheit mit einem solchen Preis zu erkaufen?
Ein Blick zu den Mädchen genügt, damit sie verstehen, daß ich mich aus den Fluchtplänen zurückziehe.

Heute, am 04. August 1943, habe ich Geburtstag. Ich weiß schon, daß für mich ein Paket da ist. Wagner ist gut gelaunt, der rothaarige Gehilfe ist nicht da und die Aufseherinnen sind weit. Durchsuchung des Päckchens. Aber wie anders ist sie hier als auf dem Feld. Dort wird alles absichtlich zerstört oder weggenommen. Hier lächelt der Deutsche, holt alles langsam heraus, aber er nimmt auch weg, und zwar einen Spiegel, das Verbandszeug, da mir wegen meiner stets geschwollenen Beine geschickt wird, Puder und einen Lippenstift, auf den wir mit Überraschung schauen.
Ein Lippenstift. Der erste in meinem Leben, ein französischer. rosafarbener, der bestimmt duftet. Wir lachen ergriffen.
Ich habe in einem Kassiber um eine Creme für meine immer blutenden und aufgesprungenen Lippen gebeten, die in dem übermäßigen Wind, in der Sonne und infolge Vitamin- und Fettmangels rissig geworden sind. Und daraufhin schickt meine wunderbare, unpraktische Mutter eine Creme und einen Lippenstift! Meine Augen sind voller Tränen, als Wagner mir den Lippenstift fortnimmt und ihn in die Tischschublade wirft.
In den Baracken, die für zweihundertfünfzig Frauen vorgesehen sind, leben jetzt über sechshundert. Die Appelle sind für die Blockältesten und die Polizistinnen Schwerstarbeit Das ist nicht mehr so, wie bei den ersten Häftlingsfrauen, die sich das Leben gegenseitig erleichterten und hilfsbereit waren. Tausende von Frauen, abgehetzt und verloren. Weinende Kinder aus dem Zamosc-Gebiet, kranke Griechische Jüdinnen mit einer geradezu beneidenswerten Fähigkeit, vom Appell während des Zählens zu verschwinden. Grobe, spöttische Prostituierte und dazu die Schreie der neuen Aufseherinnen. Und es gibt viele von ihnen auf dem Feld.

August. Weitere Transporte mit >kriegsgefangenen< Mädchen, griechischen und polnischen Jüdinnen, daneben Abgänge ins Unbekannte. Auf dem Feld sind dauernd Razzien für die Arbeit und für die Gaskammern. Jetzt gehen die Jüdinnen nicht mehr folgsam zu letzten Appell. Sie laufen auf dem Feld auseinander, verstecken sich, um den Selektionen zu entgehen, in den Infektionsbaracken des Reviers, unter den Baracken, überall dort, wo man sich hineinzwängen kann.

Der Chef hat mir erlaubt, in die Effektenkammer zu gehen. Entsetzt war ich beim Anblick der riesigen Lagerbestände von verschiedensten Gegenständen – Schuhbürsten, Zahnbürsten, Kämme, Puderdosen, Brillen, Koffer mit Silber und tausend anderen geraubten Gegenständen.
Bedrückt kehre ich zurück, hocke auf einem bis an die Decke reichenden Stoß von Mänteln und trenne die Nähte und die Säume auf, entferne Knöpfe. Neben mir lauschen die Mädchen auf den leisen Gesang von Romanka. Wir hören zu und kehren in die Vergangenheit zurück, denn von der Zukunft können wir nicht mehr träumen. Die Tage, wo wir Pläne für die Zeit >nach dem Kriege< schmiedeten, sind vorbei, wir leben mit der Gegenwart, denn es wird für uns immer schwerer, sich die Rückkehr ins Leben >dort< vorzustellen.
Wir sind uns darüber im klaren, daß wir schon anders sind als die Menschen in der Freiheit, daß viele von uns nicht in der Lage sein werden, sich wieder in die frühere eigene Gestalt zu versetzen, daß Läuse, Krankheiten, Zyklon und der Gestank der verbrennenden Leiche eine Kruste bilden, von der wir immer umgeben sein werden.

Dritter Tag im November. Mittwoch. Nebel hat das Feld umhüllt, nicht einmal der Drahtzaun ist zu sehen. Wir stellen uns in diesem dichten Weiß schwerfällig, müde und schläfrig auf. Sogar die Blockältesten schreien nicht, denn sie können die Zehnerreihen nicht sehen. Dann wird es still. Wir warten auf die Aufseherrinnen. Langsam verfliegt der Nebel in den grauen Morgen. Baracken, die Wache, Drahtzäune kommen zum Vorschein. Und plötzlich wird durch die Reihen geflüstert: >Schaut!< Vor dem Drahtzaun Maschinenkarabiner und Soldaten. Einer neben dem anderen.
Wir haben keine Zeit zum Umschauen, schon treiben sie uns in die Baracken. Wir drücken unsere Nasen an die Scheiben, aber erschrocken über das plötzliche Ertönen von Musik aus den Lautsprechern springen wir zurück. Die Deutschen wollen die Schüsse übertönen.
Ich gehe zum Fenster. Nein, nein, sie bewachen uns nicht, man kann vor die Baracke gehen. Menschen gehen. Ich wundere mich gar nicht, daß es nicht Soldaten sind, denn ich habe doch längst begriffen.
Frauen, Männer und Kinder. Zivilisten. Sie tragen elegante Wintermäntel oder schon abgetragene schmutzige Lumpen. Sie tragen Koffer, Bündel und Taschen.
Ein neuer Zugang? Noch nie war er so zahlreich. Woher haben sie eine solche Menge Menschen genommen und wohin führen sie sie? Die ganze Straße bis zur Landstraße voll gedrängt und auf der Landstraße nach Lublin gehen sie auch noch.
Direkt am Drahtzaun kommen von Mal zu Mal mit lautem Geräusch Motorräder vorbei und auf der anderen Seite der dort Gehenden Kraftfahrzeuge. Die Deutschen, die mit dem Transport beschäftigt sind, achten nicht auf die Baracken, so daß immer mehr von uns herausstürzen. Aus dem Revier kommen weiße Kittel zum Vorschein. Wir schauen wachsam, um jeden Augenblick spurlos verschwinden zu können.

Eine neue Melodie, dieses Mal ein Wiener Walzer! Jetzt merken wir es, das sind Juden. Wir erkennen sie an der Kleidung und ihren Gesichter.
Schüsse! (An der schönen blauen Donau). Musik, und weit entfernt Geknatter von Maschinenkarabinern.
Müde von der Anspannung, noch voller Erwartung belegen wir Bänke, Tische und Pritschen. Wir warten, horchen auf die schon lange nicht mehr gehörten Melodien und den Widerhall der Schüsse. Wo wollen sie die Menschen unterbringen? Sie werden sie doch wohl nicht alle umbringen.
Wieder Schüsse. Feuergarben und Musik aus Lautsprechern. Die Lautsprecher brüllen. Die Maschinenkarabiner rattern.
Wir beten für die, die wortlos in den Tod gehen, für jene, die sich in letzter Auflehnung auf die Deutschen werfen, für die, die aus Furcht weinen, für jene mit erhobenem Kopf und für die, die auf Knien um Erbarmen flehen, für die ängstlich weinenden, sich in die Arme der Mütter schmiegenden Kinder, für die ratlosen Väter und die verliebten Brautleute. >Versteckt die Jüdinnen!< fällt die Stimme einer Polizistin in die Baracke. Plötzlich ist das Feld schwarz von Deutschen und Aufseherinnen. >Alle jüdischen Frauen zum Appell!<
Sollten wir uns jetzt an diejenigen wenden, von denen wir wissen, daß sie Jüdinnen sind? Oder sollen wir weiter mit unserem Schweigen Unwissen zum Ausdruck bringen, obwohl sie längst die nachwachsenden Haare, die durch das Elend entstandenen scharfen Gesichtszüge, ihre Sprache verraten. Wir warten. Zwei jüdische Frauen kommen heraus. In der Tiefe der Baracke höre ich flüsternde Stimmen, Pritschenknarren, Streit, nach einer Weile ist alles still. Versteckt haben sich die, die noch um ihr Leben kämpfen wollen. Wir atmen auf, als keine mehr die Baracke verlässt.
Aus der Küchen-Baracke kommen hübsche junge Mädchen mit weißen Tüchern auf den Köpfen. Sie sind in Fünferreihen aufgestellt, gehen gerade, vielleicht warten sie auf Hilfe. Und auch noch andere gehen. Pola Braun, eine jüdische Schriftstellerin. Die hellblonde, immer lächelnde Lola. Die kranke Mutter von Mincia.

Zeugenaussage über den 3. November 1943, von den Nazis >Erntefest< genannt:
Vor dem Erntefest wurde den Juden befohlen, Gräben zu graben in Zickzackform. Alle dachten, daß es Gräben gegen Luftangriffe sind. Erst später erwies sich, wozu sie wirklich dienen sollten. Dort wurden die Juden erschossen. Zuerst wurde ihnen befohlen, sich in einer speziellen Baracke vollkommen auszuziehen. Dann gingen sie nackt in Richtung Gräben, reihenweise. An jeder Kreuzung solcher Zickzacks stand ein SS-Mann mit einer Maschinenpistole und schoß. So fiel eine Gruppe nach der anderen aufeinander. Zum Schluß sollten Mütter mit kleinen Kindern erschossen werden. Da wurden mir dann die Szenen erzählt, dass die Mütter ihre kleinen Kinder vor dem Ertrinken im Blut, daß ja bis zu den Knien reichte, bewahren wollten. Sie hielten sie mit den Händen hoch, damit die kleinen Kinder noch ein paar Minuten länger leben konnten.

Der nächste Tag ist genauso wie immer.
Vom Feld II ist ein Schrei zu hören. Weit entfernt ein vereinzelter Schuß. Wie jeden Tag, unverändert seit zehn Monaten, warten wir auf die Deutschen, auf den Appell, den Arbeitsappell und das >ab! < Wir sind nur weniger auf dem Feld.

>Angeblich wurden zwanzigtausend Juden erschossen<, flüstert im Vorbeigehen Zenia.
Drei Tage sind vergangen.
Man kann noch nicht an den riesigen Mord glauben, aber die Zahl Zwanzigtausend kreist ständig auf dem Feld.

Majdanek wird evakuiert, selbst die Deutschen machen kein Geheimnis mehr daraus. Das führt zu großen Erörterungen. Von nun an verlassen uns nicht einen Augenblick die quälenden Fragen: Wird es ihnen gelingen? Und wenn nicht, was dann? Werden sie uns vernichten? Den Tod von Tausenden Juden haben wir gesehen, die an einem Tag ermordet worden sind. Wir wissen, daß alles geschehen kann. Die schweren, stickigen Rauchschwaden, die vom Krematorium kommen, beunruhigen uns. Bei Appellen dringen sie in die Häftlingskleider und die Haare, umgeben uns, dringen durch die Ritzen in die Baracken, sie sind fast greifbar. Wir beneiden die Außenkommandos, die sich dem abscheulichen Gestank entziehen können, den wir sogar beim Speichelschlucken im Mund spüren.

18. April, der letzte Abend in Majdanek. Morgen ist der Namenstag meines Bruders. Wir beschließen, alle unsere Lager- >Habseligkeiten< zu vernichten, unsere und auch die uns von den nach Auschwitz abgereisten Häftlingsfrauen zurückgelassenen. Also Mäntel, Pullover, Röcke, Bücher ect. Neuerdings durchsuchen die Deutschen nach jedem Transport die Baracken, holen die zurückgelassenen Sachen heraus. Die besseren sortieren sie aus, um sie ihren Familien zu schicken. Anscheinend geht es dort, in Deutschland, immer schlechter. Wir freuen uns über die offensichtliche Not der >Übermenschen< und wollen ihnen nichts von uns schenken.
In dieser Nacht schlafen wir fast gar nicht.