05.03.1943

Am 5. März 1943 betrug die Lagerstärke im Zigeunerlager über 12 000 Häftlinge, davon waren 6 000 Männer und 6 697 Frauen. Als Folge der katastrophalen sanitären Bedingungen traten die ersten Fälle von Flecktyphus auf.

16.05.1944

Am 16.05.1944 scheiterte nach einer Lagersperre der erste Versuch, das Zigeunerlager zu räumen, am Widerstand der Häftlinge. Zuvor hatte der Lagerleiter Georg Bonigut einige ihm bekannte Häftlinge vor der Lagerräumung gewarnt.

02.08.1944

Das Zigeunerlager wurde am 02.08.1944 im Krematorium IV vergast

10.07.1964

Aus dem Schreiben des ehemaligen Häftlingsarztes Dr. Rudolf Vitek (im Lager noch Rudolf Weißkopf) vom 10. Juli 1964 an den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer über die Liquidierung des Zigeunerlagers in der Nacht vom 01. zum 02.08.1944:
Es wurde im Zigeunerlager ein eigener Arbeitstransport zusammengestellt, für alle Zigeuner, egal, ob Mann oder Frau, die sich noch arbeitsfähig fühlten. Ihr kommt in bessere Lebensbedingungen, wurde ihnen gesagt, wenn ihr arbeiten werdet, bekommt ihr mehr zum Essen. Danach wird ein Transportzug auf die Birkenauer Rampe geschoben, direkt zur kurzen Seite des Zigeunerlagers. 1408 Menschen werden einwaggoniert. Der Zug bleibt stundenlang stehen, die Schiebetüren werden nicht geschlossen, der Starkstrom des Lagerzauns ist abgeschaltet.
Weisskopf:
Ein Ereignis, das sich noch nie abgespielt hatte. Kein einziger SS-Mann war zu sehen. Die zurückgebliebenen Alten, Schwachen und Kinder konnten so stundenlang Abschied nehmen von Söhnen, Töchtern, Vätern und Müttern. Sie durften über, resp. durch den ungeladenen Draht Flaschen mit Wasser, Stücke Brot und andere Liebesgaben ihren Leuten übergeben. Dann wurden die Türen der Viehwagen geschlossen, der Zug rollte ab, die Zigeuner im Lager wurden fortgejagt, und die Lampen flammten auf als Zeichen, daß die Lagerumzäunung wieder unter Hochspannung stehe. Das Ende: Wenige Minuten nach Abfahrt des Transports kam der Befehl: Strengste Lagersperre! Niemand durfte aus der Baracke, schwerbewaffnete SS besetzte das Lager, Maschinengewehre wurden in Stellung gebracht, lange Reihen von Lastautos und SS zu Motorrad mit leichten Maschinenpistolen fuhren über die Lagerstraße. Eine Horde brüllender, sich wie rasend gebärdender SS der verschiedensten Dienstgrade begann blockweise die Zigeuner aufzuladen und fortzufahren, immer begleitet von SS zu Motorrad.

Adelsberger Lucie

zur Person:
Adelsberger Lucie (Häftlingsnummer 45 171)
geb. 12. April 1895 in Nürnberg
+ 02. November 1971 in New York (Brustkrebs)
Adelsberger Lucie war eine deutsche Fachärztin für Kinderheilkunde sowie Innere Medizin mit dem Forschungsschwerpunkt Allergologie. Sie wurde aufgrund Ihres jüdischen gelaubens am 17. Mai 1943 mit dem 38. Osttransport in das KL Auschwitz deportiert. Adelsberger hatte 1952 einen schwerwiegenden Herzanfall, zudem litt sie unter Depressionen. Im Juni 1964 wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Am 2. November 1971 verstarb sie an Brustkrebs.
Aus Ihren Aufzeichnung über das Zigeunerlager:
Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen, ohne Muskeln und ohne Fett, und die dünne pergamentartige Haut scheuerte sich über den harten Kanten des Skeletts überall durch und entzündete sich in schwärenden Wunden. Krätze bedeckte den unterernährten Körper von oben bis unten und entzog ihm die letzte Kraft. Der Mund war von Noma-Geschwüren (Wasserkrebs) zerfressen, die sich in die Tiefe bohrten, die Kiefer aushöhlten und krebsartig die Wangen durchlöcherten. Durchfall, durch Wochen hindurch, löste ihren widerstandslosen Körper auf, bis bei dem steten Wegfließen von Substanz nichts mehr von ihm übrigblieb. Viele von ihnen, die so lange des Essens entwöhnt waren, fragten nicht mehr nach Nahrung, aber alle verlangten zu trinken; auch die, deren Körper schon viel zu viel Flüssigkeit gespeichert hatten, bettelten immer und immer um Wasser. Durst, unstillbarer Durst, war eine der großen Plagen. Wasser war verboten, weil es verseucht war. Durch keine Drohung und keine Bitte waren die Kinder vom Trinken abzuhalten. Sie verkauften ihre letzte Brotration für einen Becher des gefährdeten Wassers, und wenn sie kaum mehr gehen konnten, krochen sie nachts von ihrem Lager und krabbelten heimlich auf allen vieren unter den Betten hindurch zu den Kübeln mit Aufwaschwasser und soffen es aus. Vor Hunger und Durst, Kälte und Schmerzen kamen die Kinder auch nachts nicht zur Ruhe. Ihr Stöhnen schwoll orkanartig an und hallte im ganzen Block wider, bis sie erschöpft nachließen und nach kurzer Pause zu neuem Crescendo ansetzten. Nacht für Nacht flutete das Jammern der leidenden Kreatur auf und ab, wie die Wogen eines Meeres, eine nicht endende Symphonie menschlicher Qual.

Sie berichtete nach Kriegsende über die Lebensumstände der Kinder:
Die Krankenbaracken waren mit 400 bis 600 Kranken belegt. Die Kranken wurden mit Stand vom April 1943 von 30 Häftlingsärzten und 60 Häftlingspflegern versorgt, die für die Behandlung nicht über ausreichend Medikamente oder Verbandsutensilien verfügten. Die Tötung der erkrankten Häftlinge war dabei ein übliches Mittel der „medizinischen“ Behandlung. Josef Mengele war ab dem 24. Mai 1943 Lagerarzt im „Zigeunerlager“ und stieg dort zum leitenden Lagerarzt auf.

Bejlin Aron

Aussage des ehemaligen KL Auschwitz Häftlings Bejlin Aron (Häftlingsarzt Nr. 100736)
am
1. Frankfurter Auschwitz-Prozess
»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63
Landgericht Frankfurt am Main
83. Verhandlungstag, 28.08.1964
Vernehmung des Zeugen Aron Bejlin

zur Person:
Bejlin Aron
* 09.09. 1908 in Surach
Arzt in Bialystok (Ab August 1941 im Ghetto Bialystok)
ab dem 08.02.1943 im KL Auschwitz
Nach 1945 im Gesundheitsministerium des Staates Israel


Vorsitzender Richter:
Und nun wäre es für mich in diesem Zusammenhang von Interesse, von Ihnen zu erfahren: Was wissen Sie über die sogenannte Liquidierung des Zigeunerlagers, das heißt die Verbringung der Zigeuner in die Gaskammern? Waren Sie damals zugegen, und was haben Sie gesehen?

Zeuge Aron Bejlin:
Jawohl, ich war zugegen.

Vorsitzender Richter:
Und wann war es?

Zeuge Aron Bejlin:
Das war in der Nacht, das war abends. Und zwar werde ich gleich sagen, wie das am Abend vor sich ging, weil vorher war noch eine Selektion der Arbeitsfähigen, am Nachmittag von Mengele vorgenommen. Von Juli auf August müßte das gewesen sein. Das müßte der letzte Tag im Juli gewesen sein.

Vorsitzender Richter:
Juli auf August des Jahres?

Zeuge Aron Bejlin:
44.

Vorsitzender Richter:
44.

Zeuge Aron Bejlin:
Jawohl.

Vorsitzender Richter:
Und zwar, meinten Sie, gegen Abend.

Zeuge Aron Bejlin:
Gegen Abend fand die Liquidation statt. Die Vorbereitungen, das heißt die vorhergehende Selektion der sogenannten Arbeitsfähigen oder derer, die arbeitsfähig sind und sich von ihren Familien trennen wollten, die hat stattgefunden am Vormittag und am Nachmittag, fortgesetzt vom Mengele.

Vorsitzender Richter:
Ja.

Zeuge Aron Bejlin:
Und die wurden auch regelrecht verladen, die, die in den Transport gehen sollten. Und zwar hat sie Mengele vor der Verladung mit einer Rede verabschiedet, wo er ihnen erzählt hat, daß sie zur Arbeit gehen. Und die Familien werden hier gut betreut werden. Und sie werden sich in Bälde mit ihren Familien sehen können, also noch einmal treffen können, nachdem sie die Arbeit dort, wohin sie geschickt werden, beendet haben.
Das war am Nachmittag. Und als die Sonne unterging, es war schon halb dunkel, sind Autos ins Lager gekommen. Und zwar war das erste Auto am Kinderblock, am sogenannten Waisenhaus, angelangt. Das waren die kleinen Kinder, deren Eltern im Laufe der zehn Monate oder der Existenz des Zigeunerlagers verstorben sind. Da wurden diese Kinder als Waisen konzentriert in einem Block, und junge Pflegerinnen haben die Kinder halbwegs betreut. Und dieser Block wurde als erster ausgeleert. Das war über die Lagerstraße, gegenüber dem Block, wo ich gearbeitet habe. Da wurden sie rücksichtslos von angeheiterten oder betrunkenen - das kann ich ja nicht feststellen, wieviel...

Vorsitzender Richter:
Wie weit der Grad war?

Zeuge Aron Bejlin:
Ja. Und sie haben die Kinder rücksichtslos in das Auto hineingeschmissen. Als der Block leer war, ist das Auto abgefahren. Wir standen in weißen Mänteln über die Lagerstraße gegenüber. Und da hat Licht gebrannt im Block, in dem leeren, vollkommen leeren Block. Da kam auf mich ein SS-Mann zu und sagt: »Mach das Licht aus!« Da habe ich das Licht ausgemacht. Und in dem Moment ist natürlich die Lagerstraße völlig dunkel gewesen, völlig dunkel. Und man hat nicht gesehen, wer und was. Das Auto stand schon weiter, ist abgefahren.
Da plötzlich habe ich gefühlt, daß eine Hand mir auf die Schulter gelegt wird und einer sagt: »Rauf aufs Auto!« In diesem Moment habe ich ihm gesagt: »Ich bin Jude.« Hat er gesagt: »Ach so, Jude. Da hast du noch ein paar Wochen Zeit. Marsch in den Block!« Wie es scheint, daraus ist zu entnehmen - das ist wieder meine Vermutung -, daß der Befehl erteilt wurde: Nur Zigeuner.

Vorsitzender Richter:
Ja. Sie wissen nicht, wer von den SS-Männern sich damals daran beteiligt hat, an dieser Räumung?

Zeuge Aron Bejlin:
Es war zu sehen, wie die vorderen... Der Kindergarten war ja einer der letzten Blocks. Also wie sich das Auto genähert hat, die Lastautos dem Eingang genähert haben, da wurden sie sukzessive beleuchtet. Habe ich Mengele gesehen.

Vorsitzender Richter:
Können Sie uns auch Namen nennen?

Zeuge Aron Bejlin:
Mengele. Nur ihn gesehen. Andere SS-Leute habe ich nicht erkannt. Auf diese Entfernung war es schwer zu erkennen.

Vorsitzender Richter:
Wissen Sie, ob bei dieser Räumung sich Szenen abgespielt haben, das heißt ob Leute da aufsässig geworden sind, ob geschlagen worden ist, ob geschossen worden ist?

Zeuge Aron Bejlin:
Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß die Zigeuner geschrien haben: »Mörder!« Und zwar in Deutsch, da waren ja eine Menge deutsche Zigeuner auch darunter.

Langbein Hermann

Häftlingsnummer 60 355
Bericht:
Im Frühling 1943 fordert der Rassenwahn der Nationalsozialisten neue Opfer. Nach den Juden werden nun auch die Zigeuner aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Transporte aus Deutschland, Österreich und aus dem Osten werden nach Auschwitz dirigiert. In einem Lagerabschnitt Birkenaus wird ein Zigeunerlager eingerichtet. Das Besondere an diesem Lager ist, daß es als Familienlager geführt wird: Männer, Frauen und Kinder dürfen beisammen bleiben. Doch der Anschein, daß die Zigeuner bevorzugt werden, trügt: Ich weiß aus den Wochenmeldungen, daß die Sterblichkeitszahl in diesem Lager die höchste aller KZ-Bereiche ist. Ich schaffe mir einen Vorwand, um mit einem SS -Mann ins Zigeunerlager zu gehen. Ich will wissen, wieso dort so viele sterben.
Ein Barackenmeer, Dach an Dach, Reihe an Reihe, so weit man sehen kann. Bodenloser Dreck. Man versinkt auf der Straße bis über die Knöchel. Wie die Zigeuner ausschauen! Sie haben ihre Zivilkleider behalten dürfen, aber sie haben keine Gelegenheit, sie zu reinigen. Es gibt im ganzen Lager so gut wie kein Wasser. Sie sind schmutzig. Die Kinder haben eine Dreckkruste, die bis zu den Knien reicht.
Wir gehen in den krankenbau. Vor der Tür der Ambulanz steht eine lange Schlange. Viele Frauen mit ihren Kindern, jammernd, weinend, schreiend. Was aber soll der Häftlingsarzt machen? Er hat keine Medikamente für sie, und er kann auch den Kindern nicht das Essen verschreiben, das sie brauchen. Durchfall haben die Babys. Wie sollen sie die Lagerbrühe vertragen?
Der Pfleger, ein Pole, den ich vom Stammlager her kenne, begrüßt mich: "Du willst dir das Zigeunerlager anschauen? Du willst wissen, warum hier so viele sterben? Komm mit, dann wirst du es selber sehen."
In der Nachbarbaracke liegen die kranken Frauen und Kinder. Der Pfleger erklärt: "Hier gebären sie auch."
Da liegen auf dem Strohsack sechs Babys, sie können erst ein paar Tage alt sein. Ein entsetzliches Bild: Dürre Glieder, aufgetriebene Bäuche. In die mageren Unterschenkel haben sie bereits ihre Häftlingsnummer tätowiert bekommen. Das ist strengster Befehl der SS: Jeder, auch der Neugeborene, muß in Auschwitz seine Nummer tragen.
Auf den Pritschen nebenan liegen die Mütter; ausgezehrt, brennende Augen. Eine singt leise vor sich hin. Der Pfleger flüstert mir zu: "Die hat es am besten; sie hat den Verstand verloren."
Ich gehe durch die ganze Baracke. An den Anblick der "Muselmänner" habe ich mich schon gewöhnt. Aber es ist schrecklich, Frauen sehen zu müssen, die so heruntergekommen sind: Ausgemergelt, Haut tund Knochen, ungepflegt, so liegen sie da. Oft nackt. Sie werden sich ihrer Nacktheit nicht mehr bewußt.
Der Pfleger führt mich aus der Baracke heraus. An der Rückwand ist ein Holzverschlag angebaut, den öffnet er; es ist eine Leichenkammer. Ich habe schon viele Leichen im KZ gesehen. Hier aber schrecke ich zurück. Ein Berg Leichen, gut zwei Meter hoch. Fast lauter Kinder, Babys, Halbwüchsige. Darüber huschen die Ratten. Ich werde diesen Anblick nicht mehr vergessen.
In der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 1944 werden sämtliche Insassen des Zigeunerlagers (Kommandant Höß:
"Meine liebsten Häftlinge") in die Gaskammern geschickt.

Bekämpfung von Seuchen

Die Bekämpfung von Seuchen fiel ebenfalls in die Zuständigkeit der Lagerärzte. Mengele bekämpfte die Fleckfieberepidemie, indem er eine Baracke räumen und die 600 bis 1000 Häftlinge durch Gas töten ließ. Die leere Baracke ließ er desinfizieren. Die Häftlinge der benachbarten Baracke wurden dann entlaust. Danach wurden sie nackt und ohne Habseligkeiten umgesiedelt und erhielten schließlich neue Kleidung. Dieser Vorgang wurde mit Häftlingen weiterer Baracken fortgesetzt. Die Möglichkeit, diese Aktion ohne den Mord an den Häftlingen durchzuführen, war offensichtlich in Mengeles Vorstellungswelt nicht vorhanden