Vor 70 Jahren begann in Köpenick der größte Terroreinsatz der Nazis
Antonchen haben se zu Tode jequält, det kann man ja nich erzählen, hat die Großmutter immer gesagt, wenn wir Kinder nach dem Onkel Anton fragten. Ein Bild stand auf der grünen Kommode: Der Urgroßvater mit seinen beiden Söhnen, Johann und Anton. Schön war er. Wir dachten ihn uns als einen leidenschaftlichen Menschen, einen, den man unbedingt kennen lernen möchte. Er starb 1933 mit 23 Jahren als ein Opfer der Köpenicker Blutwoche.
Die Sommer können in Berlin heiß sein. Die große Junihitze! Sie macht das Pflaster staubig und den Asphalt weich wie Knete. Es ist der Jasmin, der den schweren, süßlichen Duft verströmt. Er wächst in wilden, üppigen Hecken. Erst am Abend solcher Tage werden überall die Fenster weit geöffnet. Auch der 21. Juni vor siebzig Jahren ist ein heißer Tag. Es ist schwül. Einen Tag später geht ein Wolkenbruch von ungewöhnlicher Stärke nieder.
Anton Schmaus trägt ein weißes Hemd, als er am Morgen das Elternhaus verlässt. Der Einundzwanzigste ist ein Mittwoch. Anton will in die Kurfürstenstraße, zur H.T.L. der Höheren Technischen Lehranstalt für Hochbau und Tiefbau. Die dunklen, welligen Haare sind straff nach hinten gestrichen. Er ist ein großer junger Mann. Ein sportlicher Kerl. Anton Schmaus ist wie sein Vater gelernter Zimmermann. Er möchte Architekt werden. Dafür besucht er das Abendstudium. Zu Hause liegen die Rollen mit Projektentwürfen für Einfamilienhäuser sowie filigrane Freihandzeichnungen von kunstvoll geschwungenen Treppen. Im Juli ist Abgabetermin für die Arbeiten. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Anton gilt als begabt und eifrig. Doch an diesem Morgen kann er sich nicht konzentrieren. In Köpenick gibt es seit Tagen keine Ruhe mehr. Unablässig werden Leute aus der Bahnhofssiedlung und den umliegenden Wohngebieten von der SA abgeholt. Man hört, sie würden gefoltert.
Am 21. Juni durchsucht die SA mit Unterstützung der Gestapo speziell die Häuser am nördlichen Ende der Alten Dahlwitzer Straße. Dort wohnt Anton mit seiner Familie. Es ist noch gar nicht lange her, dass eine Nachbarin, die Bezirksverordnete Maria Jankowski, aus ihrem Haus gebracht und auf dem Heuboden des Sturmlokals Demuth schwer misshandelt wurde. Sie ist nicht mehr in die Siedlung zurückgekehrt. Auch die Kommunisten Hermann und Paul Spitzer, zwei Brüder, hatten sie abgeholt und geschlagen. Im März wurde das Reichsbannerwassersporthaus Wendenheim verwüstet und beschlagnahmt. Diese Aktionen, verbunden mit den Wahlen am 5. März, erklärten die Nazis zum Bestandteil ihrer Nationalsozialistischen Revolution. Sebastian Haffner schreibt später dazu: Der Terror von 1933 wurde von echtem, blutberauschtem Pöbel ausgeübt, die SA trat dabei als Hilfspolizei auf, sie handelte ohne jede Erregung und Spontaneität und insbesondere ohne jede eigene Gefahr; vielmehr aus völliger Sicherheit heraus.
In der Siedlung hatte sich herumgesprochen, dass es nun noch schärfer weitergehen soll. Für die Köpenicker SA war Alarm ausgelöst und Hilfe vom Charlottenburger Maikowski - Sturm angerückt. Straßen wurden abgesperrt. Das war der Anpfiff zur bis dahin größten Terroraktion der Nazis. Keine Revolution ohne Blut, so hieß es. Hermann Göring, der preußische Ministerpräsident, gab dafür den staatlichen Freibrief. Noch geheim als Säuberungsaktion deklariert: Alles, was in dieser Hinsicht passiert, sei rechtens, formuliert er vorbeugend.
Für Anton war klar, sie würden auch zu seiner Familie kommen.
Es ist erst zwei Monate her, dass die große Familie im Garten beisammen saß, die Eltern mit ihren drei Töchtern Christine, Maria und Margarete und mit den Ehegatten der beiden Älteren sowie den beiden Söhnen Johann und Anton nebst Frau und Freundin. Da feierten sie Antons dreiundzwanzigsten Geburtstag. Erfolg mit dem Studium. Das mit Hitler wird ja bald zu Ende sein, das muss man durchstehen, hat der Vater vielleicht noch gesagt. Da war er noch Vorstandsmitglied des Landarbeiterverbandes, die Gewerkschaft noch nicht verboten. So gab es zu den guten Wünschen einen Geburtstagskuchen. Einen Gugelhupf. Vielleicht einen Frankfurter Kranz mit Mandeln. Es war schön, wenn die fünf Kinder zusammenkamen. Die aus Bayern stammende Familie mit den katholischen Vornamen verstand sich aufs Feiern wie aufs Debattieren. Fromm waren sie nicht.
An jenem Morgen des 21. Juni ist Anton nicht so gelassen wie sonst. Er ist angespannt. SA-Leute, neunzehnjährige junge Männer, die er zum Teil aus der Schule kennt, dringen als Hilfspolizisten getarnt in die Häuser ein und verschleppen Nachbarn, nach Uhlenhorst ins Sturmlokal Seidler, zu Tante Anna gegenüber dem Amtsgericht oder auf den berüchtigten Heuboden von Demuth. Dort schlagen sie mit Rohrstöcken, Kavalleriesäbeln und Gartenstühlen auf ihre Opfer ein. Für jedes Mitgliedsjahr in einer linken Vereinigung einen Hieb.
Auch Anton hatte einer der Männer schon vor Jahren zugezischt, zu dir werden wir auch noch kommen. Friedrich Plönzke könnte es gewesen sein, im gleichen Jahr wie Anton geboren, Klavierstimmer und Sturmführer der SA. 1950 sagt er als Hauptangeklagter vor dem Landgericht Berlin aus, dass er Anton vom Skilaufen her kannte. Sie waren in den Müggelbergen. Anton trug beim Skilaufen seine Reichsbannermütze, und ich lief neben ihm in meiner grauen Mütze. Politische Auseinandersetzungen habe er nie mit ihm gehabt. Ungeachtet dessen wird Plönzke am 21. Juni zum Truppführer Gleuel sagen: Dass der junge Schmaus ein fanatischer Politiker sei und dass ihm, wenn er eine Pistole hätte, alles zuzutrauen sei.
Hugo Kern, Zeuge im Moabiter Prozess zur Köpenicker Blutwoche von 1947, wiederum hatte gehört, dass der Vater von Anton einige Tage vor dem 21. Juni abends in Köpenick auf der Straße von SA-Männern überfallen und zusammengeschlagen wurde, so dass er blutig auf dem Pflaster liegen blieb. Ein Droschkenchauffeur habe den Vorfall beobachtet, konnte aber nur abwarten, bis die SA-Männer verschwunden waren, fuhr dann heran, nahm den hilflosen Herrn Schmaus ins Auto und fuhr ihn nach Hause. Daraufhin habe der Sohn Anton überall die Warnung verbreitet: Wer es nochmals wagen sollte, seinen Vater anzufassen, den würde er über den Haufen schießen.
Der Vater Johann, seit 1913 hauptberuflich als Vorstandsmitglied der Gewerkschaft sowie im Reichswirtschaftsrat tätig, hielt sich nur noch selten zu Hause auf. Seit die Gewerkschaften am 2. Mai verboten worden und er arbeitslos geworden war, ist er desillusioniert. Vorsichtshalber schläft er in der Stadt. Bei seiner Sekretärin. Anton war die meiste Zeit mit seiner Mutter und der dreizehnjährigen Schwester Grete allein zu Haus.
An diesem Abend kam der Vater nach Hause. Seine Frau hatte ihm telefonisch mitgeteilt, dass die SA gegen 11 Uhr die Wohnung durchsucht, aber nichts Aufregendes gefunden hat, die Flugblätter, die auf der Küchenkommode lagen, konnte sich Anna, eine junge Besucherin der Mutter, gerade noch unter die Bluse schieben.
Johann, die haben alle deine Bücher abgeholt. Sie räumten den eichenen Bücherschrank aus: Lassalle und Marx, Jack London und Shakespeare, auch Brehms Tierleben, sogar Krimis und die Propylen-Weltgeschichte. Das schmerzte. Da musste er kommen und nachsehen.
Seit der Reichstag gebrannt hatte, waren die Nazis nervös. Allzu schnell lag auf der Hand, wer Interesse an dieser Brandstiftung gehabt haben konnte. In der Siedlung war die Beteiligung der Köpenicker SA als Wache im Reichstagspräsidentenpalais ein offenes Geheimnis. Köpenick war also in jeder Hinsicht ein rotes Tuch. Man wollte hier so aufräumen, dass den Linken und wer immer auch dazugehört, hören und sehen vergeht. Es war wörtlich gemeint. So sollte nachhaltig jeder Widerstand in dem Arbeitervorort gebrochen werden.
Wenn die SA mal kommt, dann schieße ich, bevor sie mich zum Krüppel schlagen, sagt Anton seinem besten Freund. So steht es im Polizei-Protokoll vom 23. Juni. Von wem sollte er auch Beistand erhoffen? Vor allem von Alfred, seinem Schwager, hat er gelernt, dass man sich wehren kann. Während sein Vater die Meinung vertritt, man sollte in dieser Situation Ruhe bewahren, sagt Anton im Familienkreis, man muss sich im Notfall mit der Waffe in der Hand zur Wehr setzen. Und seinen Kommilitonen an der Bauschule soll er in den Tagen vor dem 21. Juni mitgeteilt haben: Wenn ihr mal in der Zeitung lest, dass es in Köpenick tote SA-Männer gibt, dann bin ich es gewesen. Natürlich glaubt das kein Mensch an der H.T.L.
Anton ist ein gebildeter junger Mann, eher ein Ästhet als ein Kämpfer. Er war nicht einmal so sehr politisch aktiv, sagt seine Schwester, obwohl er im Rotbanner organisiert war. Für sie war Anton vor allem ihr Sportskamerad, mit dem sie den Müggelsee durchschwommen ist, bis die Luft knapp wurde, der sie an den Türbalken hob um mit ihr Klimmzüge zu machen. Er war ein Unikum. Auch ein Provokateur? Ja. Wenn Nazis auf der anderen Straßenseite entlanggingen, dann hob er den Arm zum Hitlergruß und rief: So hoch liegt der Schnee in Italien! Ein andermal spuckte er neben seine Schuhe.
Am 21. Juni, diesem heißen Mittwoch, jedenfalls kommt Anton gegen acht Uhr nach Hause. Er isst mit Vater, Grete und Mutter zu Abend. Es wird beredet, was so vorgefallen ist. Rund um den Dahlwitzer Platz haben sie schon Leute aus den Häusern geholt. Dennoch hoffen sie, mit der Beschlagnahmung der Bücher sei es erst einmal überstanden.
Die Hitze staut sich in Antons Mansardenzimmer. Er schiebt die schmalen Fensterflügel weit auf. Das weiße Hemd legt er über den Stuhl. Nur mit einer Badehose bekleidet, setzt sich Anton an seinen Schreibtisch. Überall im Zimmer liegen die Zeichnungen verteilt. Arbeiten hat keinen Sinn. Er schiebt die Papiere zur Seite, trommelt mit dem Zeichenstift und grübelt vor sich hin. In der Wärmflasche, deren obere Hälfte abnehmbar ist, hat er für alle Fälle eine Pistole versteckt. Hat sie ihm sein Schwager Alfred gegeben? Er habe sie von seinem Bruder Johann bekommen, für alle Fälle, gibt er später zu Protokoll.
Ob sie doch noch mal kommen?
Vom Schreibtisch vor dem Fenster aus kann Anton die Straße und die gegenüberliegenden Häuser übersehen. Er sieht die erst vor drei Jahren gepflanzten Linden, die handtuchförmig geschnittenen Gärten der Siedlung mit ihren Obstbäumen, mit Gemüsebeeten und Blumenrabatten. Es gibt nur kleine Rasenflächen, Jasminbüsche. Schöner Sommer. Die große Schwester Maria ist Segeln, obwohl sie Segeln gar nicht liebt. Es ist schon nach dreiundzwanzig Uhr. Von der Straße riecht es staubig und warm. Zu dieser Zeit darf es keine Hausdurchsuchungen mehr geben. Sie können schlafen.
Ein Kastenwagen fährt vor die Tür.
Die SA-Leute Gleuel, Apel, Klein, Steinke, Oehme, Gräf und Schaf springen aus dem Wagen, verteilen sich lärmend. Wenige Sekunden später wird unten an die Tür geschlagen. Ob jemand öffnet oder sich die SA-Leute gewaltsam Einlass verschaffen, ist nicht mehr genau rekonstruierbar. Vier bewaffnete Männer drängen sich in den engen Flur. Eigentlich sollten sie schon längst zur Sonnwendfeier in die Müggelberge, aber Robert Gleuel wollte noch mal in die rote Siedlung, Anton Schmaus holen. Sie durchsuchen das untere Geschoss und wollen gerade die Treppe hinaufsteigen, da ruft die Mutter zur Mansarde hoch: Anton, hilf! Hat sie Anton, schieß! gerufen, wie ihr dann unterstellt wurde? Konnte sie überhaupt noch rufen? Augenzeugen berichten, sie hätte sofort einen Tritt in den Leib bekommen.
Anton, komm du! hört er den Hilferuf der Mutter. Der Vater soll irgendwie fliehen können. Anton fragt: Was wollen Sie hier?
Im streng vertraulichen Bericht des Geheimen Staatspolizeiamtes vom 23. Juni an den Herrn Reichskanzler persönlich und schließlich an Hermann Göring übermittelt steht:
Am 21. Juni 1933 gegen 23 Uhr 30 unternahmen SA-Leute des Sturmes 15 in Berlin Köpenick, in der alten Dahlwitzer Straße 2 Auftragsgemäß eine Durchsuchung bei dem Gewerkschaftsfunktionär Johann Schmaus. Die SA-Leute unter Führung des Sturmführers Gleuel drangen in das Haus ein und durchsuchten zunächst die unteren Räume der Wohnung, als sie die ziemlich steile Treppe zum ersten Stockwerk emporstiegen, wurde plötzlich eine Zimmertür aufgerissen und der Sohn des Gewerkschaftsfunktionärs trat mit einer 08-Pistole heraus und eröffnete sofort das Feuer.
Er sieht die Revolver. Man weiß nicht, ob er erst jetzt den Messingnen Verschluss der Wärmflasche aufschraubt oder diese schon offen lag. Er greift seine Pistole, tritt zurück an die Tür und schießt. Der SA-Mann Apel ist sofort tot. Gleuel erliegt im Krankenhaus seinen Verletzungen. Ein dritter ist angeschossen. Anton flieht, schießt im Fliehen, als er den Wagen mit Gräf vor dem Haus sieht. Sein Schuss trifft nicht ihn, der sich zu Boden wirft, sondern das behauptet später die SA den zuvor verhafteten Schlosser Janitzky, der im Auto sitzt. Anton rennt nur mit der Badehose bekleidet den Düngeweg entlang Richtung Wald. Ein verzweifelter, gehetzter junger Mann. Im Wald trifft er den Nachbarn Albrecht. Kann er ihm helfen? Sachen besorgen? So kann er nicht weiter. Albrecht kann nicht. Er will auch nicht. Die Angst vor der SA ist groß, der Wald abgeriegelt. Meine Sachen passen dir nicht. Lauf nach Erkner Junge, dort sind sie nicht!
Anton weiß, dass er nicht nach Erkner kommen würde. Er will sich der Polizei stellen. Hier in Köpenick hat sie immerhin noch den Ruf, für Recht und Ordnung zu stehen. Er rennt weiter und meldet sich beim Bahnvorsteher in Hirschgarten, schildert atemlos und vor Erschöpfung weinend das Geschehene und bittet um Abholung durch die Polizei. Die kommt nicht, dafür schickt der Bahnvorsteher den Beamten August Szepanski mit Anton aufs Köpenicker Polizeirevier 244. Es gibt ein Gerangel zwischen Polizei und SA. Am nächsten Morgen wird er in Begleitung von zwei Polizeibeamten und drei SA-Leuten ins Polizeipräsidium zum Alexanderplatz gebracht. Unterwegs wird der Wagen von der SA gestoppt. Man will den Schmaus haben und ihn lebendig begraben. Die Polizisten widersetzen sich dem Druck der SA. Im Polizeipräsidium drängen sich schon 40 fanatisierte junge Männer. Sie wollen das Marxistenschwein, den Mörder. Ein Schuss von Sturmbannführer Herbert Gehrke in den Rücken von Anton reicht fürs Erste. Anton bricht schwer an Wirbelsäule und Leber verwundet zusammen.
In Köpenick ist der Teufel los. Die Atmosphäre gespenstisch: Die Fackeln für die Sonnwendfeier werden jetzt hier zum Suchen benutzt. Tote SA-Männer, ein besseres Alibi kann es nicht geben. Niemand wird mehr nach den Listen fragen, auf denen lange vorher 100 Namen vermerkt waren, niemand sich dafür interessieren, dass die Aktion im Stabsquartier der Köpenicker SA- Standarte 15 gemeinsam mit Sturmbannführer Gehrke und dem stellvertretenden Berliner Gauleiter der NSDAP Artur Görlitzer vorbereitet worden war. Gehrke hatte klare Vorstellungen. Er wollte selbst die Unternehmung leiten. Persönlich würde er die Vernehmungen betreuen.
Je einen Sturmführer, Plönzke dabei, hatte er für die Verhörlokale eingeteilt, und die Schläger ganz speziell ausgewählt. Nach der Nacht vom 21. Juni wurden über 500 Antifaschisten aus ihren Wohnungen geholt. Die Verhafteten gefoltert und verschleppt. 21 Morde wurden begangen. Etliche der Verhafteten blieben für immer vermisst. Die SA konnte sich dem Blutrausch hingeben. Ungezügelt. Für Alkohol in Mengen war auch gesorgt. Sie gossen Oxalsäure in die Körperöffnungen und strichen Teer in die Wunden der Gefangenen. Die Ermordeten wurden in Säcke gesteckt und in die Dahme geworfen. So findet man zwei Tage später Paul von Essen, Karl Pokern und den Reichstagsabgeordneten Johannes Stelling.
Antons Mutter Katharina wird noch in der Nacht zum 22. Juni ins Amtsgerichtsgefängnis gebracht. Sie muss das Blut der Geschlagenen aufwischen. Die gefüllten Eimer werden über ihrem Kopf geleert. Mit Blutergüssen in der gesamten Muskulatur wird sie schließlich als Polizeigefangene ins Krankenhaus verbracht. Der Vater Johann wird im Garten überwältigt. Man sperrt ihn in den Keller, dann in die Küche. Dort setzt man ihm einen Hut auf und schlägt auf den Kopf bis die Augen heraustreten. Er soll seinen Sohn verfluchen. Blutüberströmt bleibt sein Jackett zurück. Am Tag danach findet man ihn erhängt in seinem Schuppen und behauptet Selbstmord aus Verzweiflung. Der SA-Mann Steinke aber rühmt sich unvorsichtiger Weise seiner Tat. In der Küche wird in der Nacht darauf ein Brand gelegt, der die Spuren verwischt.
Vor der Alten Dahlwitzer Straße Nummer zwei hängt nun eine Hakenkreuzfahne auf halbmast. Eine Wache wird postiert. Wer am nächsten Morgen nicht grüßt, wird zusammengeschlagen. Das Haus gilt als requiriert. Wir sind dann immer hinten durch den Garten zur Schule einen kleinen Weg gegangen, damit wir nicht an der Wache vorbei mussten und den Gruß abstatten, sagt eine Zeitzeugin.
Anton wird querschnittsgelähmt ins Staatskrankenhaus in Mitte überführt. Johann, sein Bruder kann gewarnt werden und flüchtet nach Prag. Grete, die Dreizehnjährige nimmt die SA mit zu Seidler und entlässt sie erst, als bekannt wird, dass Anton angeschossen worden war. Nachts bringt sie ein SA-Mann, der irgendwie selbst froh ist, dass er nicht weiter dabei bleiben muss, ins Haus zurück. Sie findet die Küche fest verschlossen. Alles ist unheimlich. Sie schaut nicht in den Schuppen. Sondern steckt die Katze Krümel in einen Beutel und legt den Schäferhund Ari an die Leine. Ich bin dann mit beiden Tieren in den Wald und wollte zu meiner Schwester nach Hirschgarten laufen. Noch nie war sie allein im Wald. Aus Angst, sie war nun für immer weg. Es war ein unglaublich schöner Sonnenaufgang so um vier Uhr morgens mit Vögelgezwitscher. Ich lief einen geraden Weg und habe diesen Morgen, der mir so schön und friedlich vorkam, nie wieder vergessen. Die Schwester nimmt sie auf. Auch ihr Mann war in der Nacht abgeholt worden. Am nächsten Mittag schon muss auch die Schwester verschwinden. Sie soll sich nach Prag durchschlagen.
Grete hat ihren Bruder Anton nie wieder gesehen. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, wie aufgeladen die Zeit war, erzählt die 83-Jährige. Allerdings nicht hier im Viertel, wo früh die Brötchen an die Tür gehängt wurden und jeden Tag der Milchmann kam. Hier haben wir wie eine große Familie gelebt. Man kannte sich und hat sich geholfen. Niemand hat mit einer solchen Eskalation gerechnet.
Selbst die SA hatte sich verkalkuliert. Es gab vehementen Bürgerprotest und sehr besorgte Aufmerksamkeit im Ausland. Alfred Wartmann schrieb an den Reichskanzler, dass er für internationale Presse sorgen würde, wenn es nicht einen Prozess gibt. Die Berliner illustrierte Nachtausgabe vom 22. Juni 1933 titelt groß: Der Vater des marxistischen Mörders in Köpenick richtet sich selbst. Der Neue Vorwärts berichtet über die Tragödie Schmaus.
Die Londoner Times bringt am 11. Juli den Aufsehen erregenden Artikel: German Matteotti Case.
Anton liegt derweil im Staatskrankenhaus, wo er jede Woche von der Mutter oder seiner Verlobten Gertrud besucht werden kann. Kannst bald wieder Schlittschuhlaufen, scherzen sie. Er ist schon auf dem Weg der Besserung, die Lähmung allerdings bleibt. Die Gestapo interessiert sich für seinen Gesundheitszustand und bittet um ärztliche Gutachten bezüglich der Lebenserwartung. Wenige Monate, wird im September 1933 vermerkt. Am 14. Januar wird er aus dem Krankenzimmer geholt. Am 15. Januar bittet die Polizei Verwandte ins Krankenhaus. Die Mutter kommt mit Gertrud. Anton kann nicht mehr sprechen, sich nicht mehr bewegen. Er hat eine Wunde am Hals und unter den Fingernägeln Erde. Es ist jetzt alles egal, haucht er. Er stirbt in der folgenden Nacht, am 16. Januar 1934. Das Obduktionsgutachten fehlt bis heute.
1950 gibt es vor dem Strafgericht Berlin-Mitte einen ebenso sensationellen wie akribischen Prozess. Die Schuldigen an der Köpenicker Blutwoche werden ermittelt und verurteilt.
Der Journalist Rudolf Hirsch berichtete für die Tägliche Rundschau aus dem Gerichtssaal. Die Straßen in der Köpenicker Bahnhofssiedlung tragen die Namen der Ermordeten: Janitzkystraße, Essenplatz, Stellingdamm, Schmausstraße. An den Häusern gibt es Tafeln.
In der Familie wurde kaum über den Juni 1933 gesprochen. Auf der grünen Kommode aber stand immer das Foto: Der Urgroßvater mit seinen beiden Söhnen Johann, der Großvater und Anton, sein Bruder. Auch die Zeichenblätter sind noch da.
Grete emigrierte nach Prag, kehrte zurück nach Deutschland und überlebte in einer Laubenkolonie, zunächst gemeinsam mit der Mutter. 1943 verstirbt Katharina Schmaus infolge schwerer Erkrankungen in einem Krankenhaus in Posen. Johann kam schon 1934 für eineinhalb Jahre nach Dachau. Auch Maria ging mit ihrem Mann nach Prag und lebte später wieder in Berlin. Christine konnte mit Alfred nach Neuseeland fliehen und blieb für immer.
Das mit Hitler wird ja bald zu Ende sein, das muss man durchstehen, hat der Vater vielleicht noch gesagt.
Am 15. Januar bittet die Polizei Verwandte ins Krankenhaus. Anton kann nicht mehr sprechen, sich nicht mehr bewegen. Er hat eine Wunde am Hals und unter den Fingernägeln Erde.
Quelle
Anita Wünschmann