Zwangsarbeitslager/Kommando (HKP) 562

Gebiet
Litauen, Bezirk Vilnius

Eröffnung
Mitte September 1943 wurden dem Heereskraftfahrzeugpark etwa 1 500 Juden zugeteilt

Liquidierung
am 27.03.1944 sonderte man die alten und kranken Männer und Frauen sowie alle Kinder aus und erschoss sie in Ponary.

Schließung
Am Abend des 2. Juli 1944 verläßt die HKP-Einheit
Wilna und machte sich auf den Weg nach Kovno.

Geschlecht
Frauen, Männer und Kinder

Einsatz der Häftlinge bei
HKP (Heereskraftfahrzeugpark)

Bemerkungen
Erschießungsstätte Ponary
Die Sowjets hatten dort große Gruben ausgehoben, in denen Treibstoff gelagert werden sollte. Diese Gruben benutzten die SS und ihre litauischen Helfer bis Ende 1943/Anfang 1944 als Erschießungsstätte und Massengräber für Zehntausende Juden, sowjetische Kriegsgefangene und polnische Widerstandskämpfer
In 12 Gruben erschossen die Exekutionskommandos etwa 100.000 Menschen, darunter rund 60.00 bis 70.000 Juden.

Namensliste von Opfer/Verfolgte

Die Partisanenhymne von Wilna (Sag nie...)
Das Lied von Ponar

Rechtsgrundlage nach 1945
Zwangsweiser Aufenthalt in einem Ghetto

Heeres-Kraftfahrzeug-Park 562

Der Heeres-Kraftfahrzeug-Park 562 war für die Wartung und Reparatur von Wehrmachtsfahrzeugen zuständig. Der Hauptbetrieb mit seinen Werkstätten und Ersatzteillagern befand sich, zusammen mit der HKP-Verwaltung, am östlichen Rand von Vilnius. Der HKP 562 verwaltete noch weitere 16 Kfz-Werkstätten in Vilnius und Umgebung. Die HKP-Verwaltung lag in der Olandu-Straße, die Werkstatt HKP "Panzerkaserne" in der Valkovsky-Straße, eine weitere große Werkstatt in der Legionowa-Straße. Die Zwangsarbeiter waren in zwei großen Wohnblocks in der Subocz-Straße, etwa 1,3 km entfernt von der Hauptwerkstatt und der Verwaltung untergebracht.

Major Karl Plagge

Major Karl Plagge

Major Karl Plagge
* 10.07.1897 in Darmstadt
+ 19.06.1957 in Darmstadt an einem Herzinfarkt
Er wurde auf dem alten Friedhof in Darmstadt beerdigt
verheiratet mit Plagge Anke geb. Madsen (Hochzeit 1933)
seine Ehe war kinderlos

1917 bis 1920 britische Gefangenschaft
1919 bis 1924 Maschinenbaustudium an der Technischen Hochschule Darmstadt
seid 1931 NSDAP-Mitglied, hat sich aber spätestens 1938 vom Nationalsozialismus abgewandt

1934 Mitarbeiter im Ingenieurbüro der Maschinenfabrik Hessenwerke GmbH (Inh. Kurt Hesse)
Stark beeinflusste ihn die Zusammenarbeit und spätere Freundschaft mit dem Geschäftsführer der Maschinenfabrik Hessenwerke GmbH, Kurt Hesse, der mit einer Frau jüdischer Abstammung verheiratet war. Kurz nach der Pogromnacht 1938 wurde Plagge Patenonkel von Hesses Sohn.

1939 wurde er als Ingenieuroffizier zur Wehrmacht eingezogen.

Da er wegen einer frühen Kinderlähmung als frontuntauglich galt, bekam er 1941 das Kommando über den Heeres-Kraftfahr-Park (HKP) 562 Ost in Wilna

Nach 1945 ließ er sich im Entnazifizierungsverfahren auf eigenen Wunsch
als Mitläufer einstufen, obwohl er von der Spruchkammer als Entlasteter eingestuft werden
sollte.

1948 nahm er seine Tätigkeit in den Hessenwerken, die durch sein Entnazifizierungsverfahren unterbrochen worden war, wieder auf. Bis zu seinem Tod war er Mitglied der Geschäftsleitung und blieb der Familie Hesse freundschaftlich verbunden.

am 22. Juli 2004 wurde ihm die Ehrung „Gerechter unter den Völkern“ durch die Gedenkstätte Yad Vashem zuerkannt

Am 10. Februar 2006 wurde die ehemalige Frankenstein-Kaserne in Pfungstadt bei Darmstadt in Major-Karl-Plagge-Kaserne umbenannt

Am 24. Januar 2008 wurde er von der Carnegie Stiftung für Lebensretter Deutschland mit der Lebensrettermedaille geehrt

Aussage des ehem. Oberleutnants Stumpff Alfred (diente unter Plagge)
"Herr Plagge", "hat eine große Zahl Juden eingestellt, die für die eigentlichen Aufgaben weder brauchbar noch notwendig waren. Es wurden zum Beispiel Juden als Frisöre, Schuster, Schneider und Küchenpersonal, jüdische Frauen und Mädchen als Gartenarbeiterinnen, sogar ein jüdischer Arzt zur Überwachung des Gesundheitszustands der Zivilarbeiter beschäftigt. Nach außen hin wurden sie als Facharbeiter für die Kraftfahrzeuginstandsetzung getarnt."

Aussage des ehem. Feldwebels Raab (diente unter Plagge)
"Die SS Verwaltung beschloß, etwa 100 Personen (Männer, Frauen und Kinder) zu den Schieferbergwerke in Estland zu deportieren. Sie waren bereits in einem Transportzug, als ein Freund von ihnen Herr Plagge informiert. Er ging sofort zum Bahnhof und befahl ihnen den Zug zu verlassen, und stellte sie unter seinen militärischen Schutz. Ein hoher SD Offizier aus Wilna kam dann zu Plagge und befahl der Einheit sich zu entfernen. Die Zwangsarbeiter mußten wieder in den Zug und wurden nach Estland verbracht. Anschließend gab es einen schweren Zusammenstoß zwischen Plagge und dem SD-Offizier. Plagge war sehr wütend und verzweifelt."

Aussage Hesse Konrad (Patensohn von Plagge Karl)
"Er hat sich nie verziehen, dass er in die NSDAP eingetreten ist, in dieses Lumpenpack, wie er sich ausdrückte. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum er so früh gestorben ist. Er ist einfach nie über seine Schuld hinweggekommen. So hat er es jedenfalls empfunden."

Gefreite Alfons von Deschwanden

1922 geboren, war der Kfz-Mechaniker in der Heilig-Kreuz-Gemeinde aktiv, und zwar in der katholischen Jugend. Nach deren Verbot durch die Nazis, traf man sich heimlich. Seine Eltern seien schief angesehen worden, weil sie ihrem jüdischen Hausarzt, Dr. Nathan, bis zu dessen Emigration treu blieben und in jüdischen Geschäften einkauften. Die Ereignisse der Pogromnacht auf den 10. November 1938 sei für ihn ein Schock gewesen: zu erleben, wie die jüdischen Mitbürger in Rudeln zum Bahnhof getrieben wurden.

Am Tag der Machtergreifung hissten die Nazis im ganzen Land ihre Hakenkreuzflaggen. Auch in Offenburg begann damit der Terror gegen Juden, der mit der schrecklichen Zahl von sechs Millionen Ermordeten das traurigste Kapitel in deutschen Geschichtsbüchern markiert. Doch auch aus Offenburg kamen »stille Helden«, die sich für die Juden einsetzten und einigen durch ihr selbstloses Handeln das Leben retteten, wie Alfons von Deschwanden. Als junger Wehrmachtsgefreiter im besetzten Litauen schoss er nicht auf fliehende Juden, obwohl er den Befehl dazu hatte.
»Wenn jemand offene Augen und Ohren hatte, konnte er erkennen, was vor sich ging«, erinnert er sich. Auch in Offenburg spielte sich Ende der 1930er-Jahre Schreckliches ab. »Die Ereignisse am Tag der Reichskristallnacht 1938 und wie die Juden dann zum Bahnhof getrieben wurden – das schockierte mich zutiefst«, erzählt von Deschwanden. Die SA habe an den jüdischen Geschäften Wache gestanden. Für Nicht-Juden war der Zutritt verboten. Von Deschwanden war in der katholischen Jugend der Heilig-Kreuz-Pfarrei aktiv, die nach 1933 verboten wurde. »Wir haben uns trotzdem weiter getroffen, heimlich.«
Im Juni 1941 wurde der 19-jährige Offenburger zur Wehrmacht nahe der Ostfront eingezogen. In Wilna, im deutsch-besetzten Litauen, war der gelernte Kfz-Mechaniker in einer technischen Einheit im Heereskraftfahrpark 562 (HKP) eingesetzt. Auf dem Transport kurz vor der Ankunft habe er regelmäßige Gewehrsalven von weiterher aus einem Wald gehört. Nach allem, was ihm bisher bekannt war, sei ihm schnell klar gewesen, dass es sich um Hinrichtungen von Juden handelte. Später wurde das schreckliche Ausmaß bekannt. Fast 100 000 Menschen wurden in den Wäldern von Ponary ermordet.
Von Deschwanden war für die Logistik im Ersatzteillager zuständig, in dem neben mehreren deutschen Soldaten auch etwa zwölf polnische Arbeitskräfte und zwölf jüdische Zwangsarbeiter arbeiteten. Nur wer als Jude einen Arbeitsausweis hatte, der ihm »kriegsnotwendige Wichtigkeit« bescheinigte, konnte der Ermordung durch die SS entgehen. Der Leiter des HKP, Major Karl Plagge, sorgte dafür, dass genügend Arbeitsstellen vorhanden waren, um die jüdischen Zwangsarbeiter zu beschäftigen. So berichtet von Deschwanden von einer Schneiderei, einer Schuhmacherei, einer Schlosserei, Einrichtungen, die im Umfeld der eigentlichen Reparaturwerkstatt für Kriegsfahrzeuge nicht unbedingt nötig gewesen wären.
Immer mehr habe darauf hingedeutet, dass Major Plagge die Juden schützen wollte, auch wenn nie in der Einheit darüber geredet worden sei, berichtet von Deschwanden. Einmal habe Plagge an Weihnachten kleine Geschenke aus der Marketenderei für die Zwangsarbeiter verteilen lassen. »Das war kolossal riskant«, sagt von Deschwanden. Unzählige deutsche Soldaten wurden wegen »Wehrkraftzersetzung« vor dem Militärgericht verurteilt. Spitzel und Denunzianten gab es überall.
Trotz dieser Gefahr half der Offenburger Gefreite von Deschwanden den Juden. Einmal, als ihm ein Arbeiter sagte, dass er wieder eine »Kinderaktion« befürchte, versteckte er dessen Frau und die zweieinhalbjährige Tochter im Ersatzteillager. Bei »Kinderaktionen« wurden willkürlich jüdische Kinder zusammengetrieben, verschleppt oder erschossen.

Juli 1944, als die Front und damit auch die Ankunft der SS unmittelbar bevorstand, hatte Karl Plagge die Zwangsarbeiter in einer verschlüsselten Rede gewarnt, dass der Rückzug des HKP bevorstand und sie dann dem Todeskommando der SS ausgeliefert sein würden.

Am gleichen Abend bekam Alfons von Deschwanden den für ihn ungewöhnlichen Befehl, im Lager Wache zu halten und auf jeden Juden, der einen Fluchtversuch unternimmt, zu schießen. Er war jedoch fest entschlossen, so vielen wie möglich die Flucht offenzuhalten. »Im Dämmerlicht sah ich, wie immer wieder Menschen in die Lager-Schlosserei liefen«, erinnert sich der Offenburger. Wie von Deschwanden vom befreundeten Gefreiten Matthias Collet erfuhr, der mit ihm zusammen Wache hielt, hatten die Juden schon Tage vorher dort das Gitter eines Fensters fast komplett durchgesägt, um bei Gefahr fliehen zu können.Alfons von Deschwanden schoss nicht. Später erfuhr er, dass mindestens 25 Menschen die Flucht gelang. Immer wieder fragte er sich, warum gerade er für die Wache in der Nacht ausgewählt worden war. »Vielleicht wusste Major Plagge von meiner Gesinnung«, vermutet er heute. Am nächsten Morgen kam die SS ins Lager und zählte die etwa 1100 Personen ab. Von Deschwanden sah es nur noch als eine Frage der Zeit an, wann seine Befehlsverweigerung entdeckt wurde. Er war in höchster Gefahr. Alleine das große Durcheinander, das wegen des bevorstehenden Rückzugs im HKP herrschte, verhinderte weitere Ermittlungen. Er war sich sicher, ein Schutzengel musste in jenen Stunden über ihm gewacht haben.

Deschwanden hatte sich schon früher für die ihm unterstellten jüdischen Zwangsarbeiter eingesetzt. Ein polnischer Jude namens Samuel Taborsky habe sich an ihn gewandt, weil er eine "Kinderaktion" befürchtete. Kinderaktion – das bedeutete, dass die SS eine Reihe von jüdischen Kindern auswählte, um sie in einem nahegelegenen Waldstück zu erschießen. Deschwanden versteckte daraufhin zwei Nächte lang Taborskys zweieinhalbjährige Tochter.

Erst viele Jahre später, nachdem Alfons von Deschwanden längst nach Offenburg zurückgekehrt war und dort den väterlichen KFZ-Betrieb übernommen hatte, erfuhr er vom Überleben einiger jüdischer Zwangsarbeiter. 1971 spürte Shoshanna Uspitz, die als Sekretärin im HKP gearbeitet hatte, Alfons von Deschwanden mit Hilfe der deutschen Botschaft in Tel Aviv auf. In einem der zahlreichen Briefe nach Offenburg schreibt die in Israel lebende Uspitz: »Lieber Herr von Deschwanden, ich habe oft an Sie gedacht und jedesmal Ihren Namen erwähnt, wenn ich von unserer wunderlichen Rettung erzählte. Sie waren für uns ein leuchtender Stern in der Dunkelheit. Die meisten haben sich nicht retten können. Mir und meinem Mann ist es gelungen, auszureißen und während 13 Tagen haben wir uns hungrig und durstig in Büschen und Ruinen versteckt.«

30.06.1944

Am 30. Juni 1944 gegen 17:00 Uhr es war noch hell, versammeln sich auf Weisung von Major Karl Plagge, Kommandant des HKP, die ihm unterstellten Zwangsarbeiter und deren Familienangehörige. Karl Plagge hat den Menschen eine wichtige Mitteilung zu machen.

Ansprache:
Die Sowjetarmee steht kurz vor der Stadt, die Wehrmacht rückt ab. Deshalb werde das Reparaturlager mit seinen Insassen von der SS übernommen. Und dann warnt Plagge seine Zwangsarbeiter: "Sie wissen alle genau, wie sorgfältig die SS ist beim Schutz ihrer jüdischen Gefangenen." Alle verstanden die verschleierte Botschaft.

Major Plagge teilte den Gefreiten Alfons von Deschwanden mit einem Maschinengewehr zur Sicherung des Hofes ein, und auf jeden Juden, der einen Fluchtversuch unternimmt, zu schießen. Er war jedoch fest entschlossen, so vielen wie möglich die Flucht offenzuhalten.
»Im Dämmerlicht sah ich, wie immer wieder Menschen in die Lager-Schlosserei liefen«, erinnert sich der Offenburger. Wie von Deschwanden vom befreundeten Gefreiten Matthias Collet erfuhr, der mit ihm zusammen Wache hielt, hatten die Juden schon Tage vorher dort das Gitter eines Fensters fast komplett durchgesägt, um bei Gefahr fliehen zu können.

Am nächsten Morgen musste Alfons von Deschwanden erleben, wie ein 14-Jähriger, der gefasst worden war, von der SS mit Gewehrkolben erschlagen wurde.

Am Abend des 2. Juli 1944 verließ Plagges HKP-Einheit Vilnius und machte sich auf den Weg nach Kovno. Aufgrund von Plagges Warnung suchten nun viele der "Plagge-Juden" vorher eingerichtete Verstecke auf, um der SS nicht in die Hände zu fallen.

250 der jüdischen HKP-Zwangsarbeiter waren am Tag der Befreiung von Vilnius noch am Leben.

Die Gräber der jüd. Opfer des NS-Systems in Wilna sind meist bekannt - dank "penibler Buchführung der Mörder und des fabrikmäßigen Verfahrens."

"Der Wehrmacht haben ungefähr 18 Millionen Menschen angehört. Die Zahl der bislang bekannten Retter in Uniform liegt unter 100. Dieses beschämende Zahlenverhältnis mag einmal mehr verdeutlichen, wie wir die außergewöhnlichen Taten des Majors Karl Plagge einzuschätzen haben."

Brief Major Karl Plagge

Dipl.-Ing. Karl Plagge
Otto-Hesse.Str. 4

Darmstadt, den 26.04.1956

Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt!

Wie sehr habe ich es bedauert, dass wir - im selben Zuge fahrend die Reise von Stuttgart nach Mühlacker nicht gemeinsam machen und uns über die verschiedenen aufrüttelnden Erlebnisse der damaligen Zeit unterhalten konnten. Sie stellten die Frage an mich, warum ich alle diese Dinge nicht einmal schriftlich festhalten wolle. Ich gab Ihnen zur Antwort, dass ich im Augenblick hierfür nicht die nötige Zeit und diese mir bisher immer gefehlt habe, was Sie sicher verstehen werden, wenn Sie wissen, dass ich als technischer Leiter und Prokurist einer großen elektrotechnischen Fabrik mit Arbeit mehr als überlastet bin.
Der Ihnen genannte Grund ist jedoch ein äußerer. Es ist mir ein Anliegen, Ihnen auch die innere Begründung für mein Stillschweigen zu geben. Ich weiß nicht, ob Sie das Buch von Albert Camus "Die Pest" kennen. In diesem Buch wird die Geschichte eines Arztes, Dr. Rieux, geschildert, der in einer Stadt wohnte, in der plötzlich die Beulenpest ausgebrochen war. Für den Fall, dass Sie dieses Buch gelesen haben sollten, möchte ich Ihnen sagen, dass es mein Bemühen war und ist, diesem Dr. Rieux in etwa nachzueifern.
Als ich das Buch nach dem Kriege zum ersten Mal las, war es mir, als lese ich meinen eigensten Gedanken, die mir während des Krieges immer und immer wieder durch den Kopf gingen. Das Schicksal der unglücklichen Juden und der Schmerz, den diese Menschen erdulden mussten, war mir nie anders erschienen als was es in Wirklichkeit war, nämlich eine empörende Schmach.

Aber diese Empörung richtet sich nicht in dem gleichen Maße, wie es der politische Mensch empfindet, gegen die Menschen, die sich zum Werkzeug gemacht hatten und zu Mördern wurden. Ich konnte die Grenzen, wo die Schuldkategorie dieser Menschen begann oder endete, nicht erkennen und gehörte selbst im weiteren Sinne als Deutscher mit dazu. Vor dieser Pest gab es keine Insel. Man musste die Schmach mit ansehen, wobei nur die Wahl blieb, Gott zu hassen oder zu lieben, der alle diese Dinge zugelassen hat. Hier lag für mich der Anlass zur Revision meiner religiösen Weltanschauung und ich setzte mich dagegen zur Wehr, eine Schöpfung zu lieben, in der Menschen gemartert und sogar Kinder vergast werden und die Menschen schuldig werden ließ, wie es hier geschah. Wenn die Weltordnung durch den Tod bestimmt war, so war es vielleicht besser für Gott, nicht an ihn zu glauben und dafür mit aller Kraft gegen den Tod anzukämpfen, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo Gott schwieg. Wenn es auf Erden nur noch "Geißeln und Opfer" geben sollte, dann war es Pflicht, nicht auf der Seite der Züchtiger zu stehen, sondern die Partei der Opfer zu ergreifen. Ich habe mit vielen dieser "Geißeln" gesprochen, die mit verantwortlich waren für das Grauen und habe lange über ihre Worte nachgedacht. Ich habe diese Menschen als blinde Werkzeuge einer Sinnestäuschung empfunden und ich muss Ihnen sagen, dass auch diese Menschen mich erbarmt haben, denn ich sah, welch schrecklicher Zwiespalt in diesen Seelen wohnte. Sie waren nicht in der Lage, sich gegen den Ausbruch jener Dummheit, Trägheit und Bestialität zu wehren, die dem Menschen als unseliges Erbe seiner Herkunft mit auf den Weg gegeben ist.

Ich habe einmal in meiner Kantine, in welcher die Fernfahrer des ganzen Ostens zusammen kamen, wenn ihre Fahrzeuge bei uns aufgetankt oder repariert wurden, einen betrunkenen SD-Mann getroffen, der weinend zusammengebrochen war, weil ihn die Gewissensnot zu Boden gedrückt hatte. Er gehörte (zu) dem Erschießungskommando, welches monatelang sein fürchterliches Unwesen trieb. Er versuchte, seine Verzweiflung mit Alkohol zu ertränken. Ich habe neben ihm gesessen und versucht, in seine Seele zu blicken. Was ich fand, war ein innerlich tödlich verwundetes Menschenwrack, welches nur noch durch die Macht der militärischen Disziplin zusammen gehalten wurde. Er war sich nicht oder nur ganz dunkel bewusst, was er anrichtete und aus seinen Rechtfertigungsversuchen ergab sich eine erschreckende Unwissenheit.
Mir kam die Erkenntnis, daß das Böse in der Welt fast immer von Unbewusstheit, Unwissenheit und Schwäche herrührt. Die Menschen sind eher gut als böse, aber sie sind mehr oder weniger unwissend und das nennt man Tugend und Laster. Das trostloseste Laster ist die Unwissenheit, welche alles zu wissen glaubt und sich deshalb das Recht anmaßt zu töten. Die Seele des Mörders ist blind. Zu wahrer Güte und Liebe gehört auch größtmöglichste Hellsichtigkeit.

Wie ich es erreicht habe, dass so viele, leider viel zu wenige, der mir anvertrauten Juden bis zuletzt, mindestens aber bis zum Abrücken meines Parkes, am Leben blieben, dafür gab es ein einfaches Rezept. Ich habe immer versucht, meine Gesprächspartner hellsichtig zu machen. Dazu gehörte eine gewisse Taktik, die darin bestand, den Gesprächspartner nicht zu reizen und in Harnisch zu bringen. Denn wir lebten ja in einer Zeit, wo derjenige, der zu behaupten wagte, dass 2 x 2 = 4 ist, mit dem Tode bestraft werden konnte. Es war mir aber vergönnt, bei der zivilen Verwaltung und beim SD mit Menschen in Verbindung zu kommen, denen ich eine gewisse Hellsichtigkeit wenigstens im Augenblick der Entscheidung vermitteln konnte. Es verlief meist so, dass meine Kontrahenten am Schluss sagten: "Sie haben ja eigentlich recht, handeln Sie so, wie Sie es für richtig halten."

Vielleicht hat anderenorts vielleicht nur ein bisschen Entschlossenheit, ähnlich zu handeln, gefehlt, um die Gräuel zu verhindern und zu vermindern. Ich habe nie empfunden, dass es eines besonderen Mutes bedurft hätte. Es bedurfte lediglich einer überzeugenden Kraft, die jeder schöpfen kann aus den Tiefen des in jedem Menschen vorhandenen moralischen Gefühls. Darüber hinaus ist vielleicht noch ein bisschen guter Wille, gelegentlich ein guter Gedanke und Hingabe an die gestellte Aufgabe nötig. Ich hatte nicht das Gefühl, mich einer besonders großen Gefahr auszusetzen, denn meine Argumente waren sowohl auf der menschlichen wie auf der sachlichen Ebene immer vernünftig, ehrlich und unanfechtbar.

Nur in einem einzigen Falle versuchte mich ein Feldwebel, der aus einer Strafkompanie zu mir versetzt war, mit der Anschuldigung der Judenbegünstigung zu erpressen und mich beim Kriegsgericht anzuzeigen. Dies kostete mich zwar schlaflose Nächte - denn ich bin im Grunde kein "Held", sondern ein recht ängstlicher Mensch - aber es gelang mir, mich dieses Mannes zu erwehren und ihn abzuschieben.

Ich habe an den Gebietskommissar Wilna-Stadt die Frage gestellt: "Darf ein Offizier mit Ehrgefühl der Ermordung wehrloser Menschen tatenlos zusehen?" Die Frage war nicht mehr wie recht und billig. Der Gebietskommissar saß lange schweigend vor mir und sann vor sich hin. Dann sagte er: "Ich würde meine Tochter nie einem Manne geben, der sich hier die Finger mit dem Blute Wehrloser beschmutzt hat." Es war zwar keine Antwort auf meine Frage, ich konnte dem Kommissar daraufhin aber sagen: "Dann hört also in meinem Machtbereich diese Morderei auf!" Er gab mir daraufhin die Hand.
Zu welchen Szenen es später trotzdem kam, ist bekannt. Als es mir in einer dunklen, gespenstigen Septembernacht gelang, mit 2 Maschinengewehren in das von ukrainischer SS umstellte, zur Vernichtung bestimmte Ghetto einzudringen und viele Hunderte von Juden auf schnell alarmierten Lastwagen in das flüchtig eingerichtete Lager in der Subotsz (Subocz)-Straße zu bringen, war die einzige Folge, dass der SD-Führer mir ausrichten ließ, ich sei ein Narr. Er hatte ein böses Gewissen, denn er hatte das mir gegebene Wort, meine Leute zu schonen, gebrochen.

Als man die jüdischen Frauen als nutzlose Esser wegführen wollte, standen plötzlich 100 holländische Nähmaschinen da und es wurde Wehrmachtszeug geflickt. Es war ein von mir vorbereiteter Trick, da ich die Entwicklung voraus sah. Niemand wagte nun mehr die so organisierte Kriegswirtschaft zu stören.
Nur den Kindermord konnte ich nicht verhindern. Ich war in diesen Tagen auf Urlaub. Ob er in meiner Anwesenheit gewagt worden und gelungen wäre, weiß ich nicht. Was an Kindern zurück blieb, kam in vorbereitete, bekannte Verstecke und lebte bis zur Räumung des Parks.

Als ich aus dem Krieg zurück gekehrt war, kamen auch für mich schwere Zeiten, da ich alles verloren hatte und meine Existenz neu aufbauen musste. Wie viel glücklicher war ich jedoch daran als die jüdischen Familien, die ich damals in Stuttgart besuchte. Herr Leo Greisdorf sagte mir damals: "Sie haben zwar alles verloren wie wir auch, aber Sie können gehen durch die Straßen, in denen Sie als Kind gegangen sind. Wir jedoch sind heimatlos geworden und werden immer voll Sehnsucht an die Straßen unserer Heimatstadt zurück denken." Ich bin damals sehr still geworden hinsichtlich dessen, was ich noch von der Welt und den Menschen erwarten wollte, denn das einmal Erlebte hat sich in das Bewusstsein eingegraben und bleibt bestehen, aber in einer anderen Form als es die heutige Politik, Literatur und Zeitgeschichte sieht.

So wie in dem Buche von Camus die Pest stellvertretend für das Böse in der Welt überhaupt durch die unglückliche Stadt stampft und ihre Mikroben verstreut, so sind auch wir immer wieder in einem Augenblick der Zerstreutheit gefährdet, angesteckt zu werden oder andere anzustecken. Was naturgegeben ist, sind die Mikroben. Alles andere, Gesundheit, Rechtlichkeit, Reinheit ist die Folge des Willens, der nie erlahmen darf. So stehe ich fern, ein Beobachter der Apokalypse unserer Zeit. Da wo ich stehe, versuche ich, nach Kräften zu wirken.

Ich darf schließen mit den Worten von Albert Camus, welcher am Schlusse seines Buches schildert, wie Dr. Rieux die Freudenfeiern beobachtet, die vom Volk nach Beendigung der Pestepidemie veranstaltet werden.
"Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Fröhlichkeit ständig bedroht war, denn er wusste, was dieser fröhlichen Menge unbekannt war und was in den Büchern zu lesen steht: dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann. Dass er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben."

Können Sie mich jetzt verstehen, warum ich heute noch schweige?

In meiner Schilderung der Erlebnisse würden die Mörder nicht als verbissene Bösewichte herum schleichen, sondern als erbarmungswürdige schizophrene Naturen, deren Bewusstseinsschärfe unvorstellbar herab gesetzt war. Und manche Soldaten wären nicht heldische Widerstandskämpfer, sondern einfache Menschen mit vielleicht einem Quentchen mehr Einsicht und einem Hauch mehr Herz als die Masse um sie herum. Sehen Sie, lieber Herr Rechtsanwalt, das wäre eine wenig attraktive Geschichte für das heutige Publikum, welches Sensationen, Helden und Verbrecher verlangt. Die Schilderung der "Pest" bringt keine Schlagzeilen, sondern verlangt Besinnung und Meditation. Diesen ergebe ich mich in freien, stillen Stunden. Was uns blieb und bleibt, solange wir leben, ist: ein bisschen Freundschaft, ein bisschen Liebe und zuletzt eine von guten Gedanken erfüllte Einsamkeit. Alle diejenigen, die mit einem größeren Anspruch an die Menschen heran getreten sind oder die sich über die Menschen hinaus an etwas gewandt haben, was sie sich nicht einmal vorstellen können, wurden enttäuscht und haben keine Antwort erhalten.

Entschuldigen Sie, dass ich als Fremder Ihnen meine inneren Gedanken offenbare. Es lag mir jedoch daran, nach unserer Unterhaltung, die auch in mir so viele Erinnerungen an schwere Zeiten wach gerufen hat, einmal schriftlich zu skizzieren, was mir in den Nächten durch den Kopf geht.

Ich sende Ihnen beiliegend ein Schreiben des Herrn Greisdorf, Lew, welches er mir freundlicherweise vorsorglich ausgestellt hat, um mir einen Freundschaftsdienst zu erweisen. So viel ich mich erinnern kann, war Herr Greisdorf Lehrer in Wilna, später hat er dann auch im Park gearbeitet. Ich kannte ihn zunächst persönlich nicht, umso gerührter war ich damals von seiner Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft. Wer weiß, wie es ihm jetzt in Kanada geht, wohin er sich entschlossen hat auszuwandern. Vielleicht leidet er Not? Wäre es Ihnen möglich, seine Anschrift festzustellen? Sollte er in Not sein, will ich gerne helfen, soweit es in meinen Kräften steht.

Sollten Sie mit Herrn Dr. Feikenbaum in Jerusalem (Dr. Moses Feigenberg) in Verbindung stehen, bitte ich, diesen zu grüßen, ebenso alle, die mich kennen, falls dieselben nach all dem erlittenen Unrecht noch Wert darauf legen, sich dieser Zeit und der Menschen, die damals mit ihnen in Verbindung kamen, zu erinnern. Vielleicht senden Sie Herrn Dr. Feikenbaum dann einmal meinen Brief.

Da ich mitten in den Vorbereitungen zur Messe in Hannover stehe, war ich beim Diktat dieses Briefes in Eile. Manche Redewendungen stammen aus dem oben erwähnten Buche des französischen Existenzialisten.

Mit freundlichem Gruß
gez. Plagge