Ghetto Alytus

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Alytus

Alytus
Litauen, Region Dzūkija, Bezirk Alytus

Alytus liegt gut 90 km südwestlich der Landeshauptstadt Vilnius an der Memel und rund je 50 km von den Grenzen zu Polen und Weißrussland entfernt

Während des Krieges: Reichskommissariat Ostland

Eröffnung
31.07.1941

Liquidierung
31.08.1941

In dem 60 km südlich von Kaunas gelegenen Städtchen Alytus wohnten 1939 etwa 9.200 Einwohner, als eine von vier grossen sowjetischen Militärbasen dort eingerichtet wurde. Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa 1.730 Juden - einschliesslich der jüdischen Flüchtlinge aus dem Suwalki-Gebiet, das 1939 an Deutschland gefallen war - in der Stadt. Wie im ganzen Land wurde 1940 die Mehrheit der Fabriken und Läden nationalisiert, der Lebensstandard sank stetig. Alle politischen und gesellschaftlichen Organisationen, die den Sowjets nicht genehm waren, wurden verboten, darunter auch alle zionistischen Organisationen. In den Schulen durfte kein hebräischsprachiger, sondern nur noch jiddischsprachiger Unterricht stattfinden. Die Deportationen in den Nächten vom 13./14. Juni 1940 betrafen auch jüdische Familien. In den Morgenstunden des 22. Juni 1941 griff die deutsche Wehrmacht die Stadt an, viele starben bereits durch die Bombardierungen, es wurden 214 Wohnhäuser und 160 weitere Gebäude zerstört. Kleinere Kämpfe dauerten bis zum 24. Juni an.
Am 23. Juni 1941 wurden an der Ecke Ecke Leliju und Wilna Straße 42 Zivilisten von deutschen Soldaten erschossen, nachdem zwei Deutsche in der Nähe einer Mühle getötet worden waren. Unter den Opfern waren zwei Priester.
Die litauischen Führungspositionen wurden in den ersten Monaten teilweise von Personen eingenommen, die in der rechtsradikalen Lietuvių Nacionalistų Partija [LNP] organisiert waren. In Alytus gehörten zu ihnen der Generalstabsmajor Juozas Ivašauskas, der Stadtkommandant sowie Leiter des Partisanenstabes und später Bürgermeister war, der Kreispolizeiführer und Hauptmann der Luftwaffe Antanas Audronis sowie der Chef der litauischen Kriminalpolizei Alfonsas Nykštaitis. Aber zwei der entscheidenden Personen für die Durchsetzung der ideologisch motivierten Verfolgungen waren nicht in der LNP: Kreischef Hauptmann Stepas Maliauskas und der Chef der litauischen Sicherheitspolizei, der Reserve-Leutnant Pranas Zenkevičius.
Die Tätigkeit der örtlichen Verwaltung bestand zuerst vor allem in der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, konkret bedeutete dies - wie in ganz Litauen - vor allem die Verfolgung von Kommunisten und Juden.
Die tatsächlichen oder vermeintlichen Kommunisten wurden zu hunderten verhaftet. Bis zum 16. Juli 1941 waren im ganzen Kreisgebiet gemäss den deutschen Befehlen 82 Kommunisten erschossen worden, 389 waren verhaftet und 345 wurden noch gesucht. Neben systematischen Suchtrupps in den Wäldern sorgten vor allem zahlreiche Meldungen der Bevölkerung dafür, dass vermeintliche Kommunisten der Polizei ausgeliefert wurden. Bis Ende August 1941 zogen allein in Alytus 50 Hinweise aus der Zivilbevölkerung Handlungen der örtlichen Hilfspolizeitruppen nach sich, wobei 36 Kommunisten, neun Rotarmisten und "eine große Zahl Juden" festgenommen wurden.
Die Verfolgung von Juden hatte noch grössere Ausmasse.
Ende Juni 1941 wandte sich der litauische Kreispolizeiführer Audronis mit der Klage an den deutschen Ortskommandanten, man ginge gegen die Juden viel zu sanft vor. Audronis bat im Einvernehmen mit der litauischen Kreisverwaltung um die Genehmigung, selbst ohne gerichtliche Verfahren Erschiessungen durchführen zu dürfen - und zwar von Kommunisten, Juden und Polen. Er übernehme die Verpflichtung, innerhalb von zehn Tagen durch die Polizeiführung den gesamten Kreis Alytus "zu säubern". Er habe dazu 200 Polizisten und 850 Partisanen zur Verfügung, es fehlten nur die nötigen Waffen und einige Fahrzeuge.
Die Morde an den Juden von Alytus und Umgebung sollten sich noch zweieinhalb Monate lang hinziehen.
Der litauische Bürgermeister ordnete erst einmal ab dem 5. Juli 1941 Zwangsarbeit für alle jüdischen Männer zwischen 16 und 55 Jahren und für alle jüdischen Frauen zwischen 16 und 45 Jahren an.16 Sie mussten vor allem Schwerstarbeit an Brücken und Strassen leisten.17 Eine Woche später - am 12. Juli - ordneten Kreischef Maliauskas und Major Ivašauskas eine Serie von Einschränkungen für Juden an. Alle Juden in der Stadt und im Kreis mussten ab dem 14. Juli in der Stadt und ab dem 16. Juli im Kreis den gelben Davidstern tragen. Sie hatten nur noch auf den Strassen, nicht mehr auf den Bürgersteigen zu gehen, unterlagen der Ausgangssperre von 20 bis 6 Uhr, durften erst ab 11 Uhr einkaufen, und Handel mit Bauern war ihnen völlig untersagt. Sie durften keine nichtjüdischen Arbeitskräfte beschäftigen und in bestimmten Teilen der Memel nicht mehr baden. Es wurde verboten, ohne Genehmigung umzuziehen, Fremde, Russen oder Kommunisten aufzunehmen und staatliches Eigentum zu beschädigen. Sogar die Benutzung von Jiddisch am Telefon war unter Strafe gestellt.
Nichtjuden durften mit Juden keine Lebensmittel handeln, alle Juden der Stadt Alytus waren nach Aufforderung zu öffentlichen Arbeiten verpflichtet, Radios, Fahrräder und Motorräder mußten abgegeben werden. Mehr als zwei Juden durften sich nicht öffentlich treffen.
Der deutsche Kommandant der Ortskommandantur II 352, Hauptmann von der Marwitz, bestätigte am 14. Juli 1941 diese "Sonderbestimmungen" für die Juden und ordnete die Registrierung aller Einwohner an. Er gab darüberhinaus nach der Vorgabe der zuständigen Sicherungsdivision 403 vom 13. Juli 1941 die Rationierung der wichtigsten Lebensmittel bekannt. Die Beschaffung oblag den litauischen Bürgermeistern, und es handelte sich nicht um Festsätze, sondern um Höchstsätze, die nach Bedarf herabgesetzt werden konnten. Für die litauische Bevölkerung war schon wenig vorgesehen, für die jüdische Bevölkerung jedoch fast gar nichts. Ihr drohte der Hungertod, sollte sie allein auf diese Lebensmittel angewiesen sein. Wöchentlich waren vorgesehen für Litauer: 1.750 Gramm Brot , 200 Gramm Mehl , 150 Gramm Grütze, 400 Gramm Fleisch, 125 Gramm Fett und 125 Gramm Zucker; für Juden waren lediglich 875 Gramm Brot in der Woche sowie 100 Gramm Mehl und 75 Gramm Grütze eingeplant. Wie sollte man von einem einzigen kleinen Stück Brot am Tag leben?
Ab Mitte Juli 1941 wurde die Politik der Verfolgung in Alytus noch stärker systematisiert und genauer durch die deutsche und litauische Führung kontrolliert. Die radikale antisemitische Grundausrichtung erläuterte Kreispolizeiführer Audronis den Polizeipunktführern der litauischen Ordnungspolizei am 16. Juli 1941.
Deutsche und litauische Interessen seien identisch und da "das Judentum" gegen Deutschland sei, sei es auch der Feind der Litauer. Jeder sei ein "Volksverräter", der Juden helfe, ihnen Lebensmittel verkaufe oder überhaupt Verbindung zu ihnen halte. Die Polizeiführung sei für die strenge Erfüllung der vom Bürgermeister am 12. Juli 1941 erlassenen antijüdischen Anordnungen verantwortlich. Die von der deutschen Wehrmacht festgesetzten Lebensmittelrationen dürften von niemandem überschritten werden, von Litauern nicht und auch nicht von Juden. Deutsche und Litauer seien Bürger erster Klasse, Polen und Russen Bürger zweiter Klasse und die Juden seien "das letzte von allen Völkern". Daran, wie die Litauer diese Politik umsetzten, werde sich nach deutscher Prüfung zeigen, ob Litauen "der Unabhängigkeit wert" sei.
Die Hoffnung auf Unabhängigkeit war jedoch vergeblich. Am 5. August 1941 begann in dem Gebiet die Tätigkeit der deutschen Zivilverwaltung unter Führung des 34-jährigen Gebietskommissars (GBK) Wilna-Land, SS-Sturmbannführer Horst Wulff
Schon tags darauf legte Wulff in einer Besprechung mit den litauischen Kreischefs seines Gebietskommissariats in Vilnius die Aufgaben fest. Als erstes forderte er eine genaue Aufstellung mit allen litauischen Mitarbeitern der zivilen und polizeilichen Verwaltung, und bis zum 13. August sollten sämtliche Juden statistisch erfasst sein. Ausserdem brauche er rasch Berichte über alle wesentlichen finanziellen und ökonomischen Fragen. Die Kreischefs seien die Vertreter des Gebietskommissars vor Ort, und Waffen dürften nur die Polizei sowie Personen mit ausdrücklicher Genehmigung tragen. Sehr schnell würden den Bezirken weitere Anweisungen zugeschickt.
Wenige Tage später erhielt GBK Wulff alle wesentlichen Informationen zum Kreis Alytus: über bisherige deutsche Anordnungen, die litauischen Behörden, die Ausrüstung der Polizei, die jüdische Bevölkerung und allgemeine Einwohnerzahlen sowie die Finanzlage, die landwirtschaftliche und industrielle Situation im Kreis. Mit dem 14. August gingen in diesem Gebiet alle unabhängigen paramilitärischen Formationen in die Hilfspolizei über. Das hatte die neue litauische Führung in Kaunas - die Führung der litauischen Sicherheitspolizei und der Generalrat für Inneres - angeordnet.

Schon Ende Juli, Anfang August 1941 war in einigen Strassen der armen Viertel von Alytus ein provisorisches Ghetto für die etwa 1.300-1.500 Juden - darunter schon hunderte aus den Dörfern der Umgebung vertriebene - eingerichtet worden. Ein dreiköpfiger Judenrat hatte die Verantwortung für die innere Ordnung unter unsäglichen Bedingungen zu übernehmen. Für das übrige Gebietskommissariat ergingen entsprechende Anordnungen erst gut drei Wochen später. Am 23. August 1941 wies Wulff alle Kreischefs an, Juden und Nichtjuden seien klar zu trennen, ein Ghettogelände sei zu suchen sowie ein Beauftragter für die 'Judenfrage' einzusetzen und bis zum 5. September 1941 zu melden. Kurz darauf erging die Anweisung des Gebietskommissariats an die Kreischefs und Bürgermeister zur raschen Erfassung und Bewachung sämtlichen jüdischen Besitzes, der komplett an den Staat falle.
Nach deutschen Quellen fanden in Alytus zwei grosse Massenerschiessungen statt, denen 2.229 Juden zum Opfer fielen. Am 13. August 1941 wurden 617 jüdische Männer und 100 jüdische Frauen erschossen, am 9. September 1941 ermordeten deutsche und litauische Einheiten 352 jüdische Kinder, 640 jüdische Frauen und weitere 287 jüdische Männer. In der Zeitspanne vom 13. August bis Ende August waren zudem 233 jüdische Männer in Alytus und Umgebung ausschließlich durch litauische Einheiten umgebracht worden. Die ausserordentliche staatliche sowjetische Kommission hielt nach dem Krieg aufgrund von zwölf Zeugenaussagen zwei weitere Morddaten für Juden in Alytus fest, die von ausserhalb zur Mordstätte gebracht worden waren: den 20. August mit 130 Opfern, darunter 15 Frauen und den 12./13. September mit 600 Opfern.

Zum Ablauf der Morde liegen weitere Aussagen von Beteiligten vor, unter anderen vom Che der litauischen Kriminalpolizei Alfonsas Nykštaitis und von einem der Partisanenführer, Jonas Borevičius. Aus den Aussagen ergibt sich folgendes Bild: Der Leiter des mobilen Mordkommandos des deutschen Kommandeurs der Sicherheitspolizei (KdS) aus Kaunas, SS-Hauptsturmführer Joachim Hamann, - daher Hamann-Kommando genannt - ordnete vor Ort die Konzentrierung der Juden des ganzen Kreises an. Sowjetische Kriegsgefangene mussten Gruben graben. Die Erschiessungen wurden durchgeführt vom Hamann-Kommando (E K3), gemeinsam mit der litauischen Sicherheitspolizei in Alytus unter Zenkevičius und der Beteiligung von 20 Partisanen, was deren Führer Borevičius in eigenen Aussagen bestätigte. Das nächste Mal brachte Hamann einen litauischen Zug seines Kommandos unter Führung des Luftwaffenleutnants Bronius Norkus, der dann für die Ermordung der Juden im gesamten Kreis verantwortlich war - so die Äusserung Hamanns gegenüber Zenkevičius. Der örtlichen Polizei kam die Aufgabe zu, die Juden zu zernieren, ihren Besitz zu rauben und die Wertsachen an Norkus zu übergeben. Bei den grossen Erschiessungen im Wald Vidzgiris waren jeweils vier deutsche Unteroffiziere aus Kaunas mit dabei und ermordeten mit litauischen Truppen unter Führung von Norkus oder dem Leutnant der Luftwaffe Juozas Obelenis die jüdischen Männer, Frauen und Kinder. In einer Aufstellung von Mitte September 1941 über die Einwohnerzahl von Alytus und -Kreis gab es unter den 123.560 Personen keine Juden mehr.
Der Gebietskommissar liess dann über die verantwortlichen Kreischefs den Verkauf der jüdischen Häuser - auch durch Ratenzahlungen - zu, stellte den übrigen zu registrierenden Besitz einschließlich sämtlicher Kulturgüter unter Bewachung, eine Anordnung, die offensichtlich mehrmals notwendig erschien.
Kreischef Maliauskas schickte am 11. Dezember 1941 eine Aufstellung mit den "Kosten" der Ermordung der Juden an das GBK Wilna-Land - 1.782, 55 RM.33 Dieser Betrag für die Errichtung des Ghettos, die Miete der Gebäude und die Verpflegung der Bewachungs- und Erschiessungskommandos wurde aus dem geraubten jüdischen Vermögen erstattet.
Hilfe für die verfolgten Juden hat es sehr wenig gegeben. Zwei jüdische Mädchen, Belkin und Chayah Kaplan, überlebten, weil sie von zwei Litauern versteckt und versorgt wurden. Eine weitere Litauerin wurde wegen ihrer tätigen Hilfe für Juden eingesperrt, und ein litauischer Bauer, der Juden geholfen hatte, hielt die Folter im Gefängnis nicht aus und wurde verrückt.
Aus dem Kreis Alytus liegen Dokumente vor, die belegen, dass ein Priester öffentlich für die Juden eingetreten ist. In Varėna hielt Priester Gylys am 14. September 1941 eine Predigt, in der er litauische Beamte als "Henker" bezeichnete. Laut Polizeibericht sagte er: "Unschuldige Menschen wurden von uniformierten Litauern geschlagen, alte Leute und schwangere Frauen wurden herumgestossen und der Wald von Varėna war mit unschuldig vergossenem Blut bedeckt. Sie litten sehr unter den Schurken. Noch bevor das Blut getrocknet war, wurde ihr Eigentum geplündert." Im Polizeibericht hiess es weiter, es sei klar gewesen, dass Gylys über die Erschießung der Juden von Varėna am 10. September 1941 sprach. Gylys hatte sich am 9. September noch an den Polizeipunktführer gewandt, da er mit den eingesperrten Juden sprechen wollte. Obwohl es ihm verboten worden war, ging er zur Synagoge gegangen und sprach zu ihnen, sie sollten tapfer sein und sich doch in ihren letzten Stunden zu Christus bekehren. Dann musste er die Synagoge verlassen.
Auch in Alytus wurde im Sommer 1941 seitens der Litauer versucht, an die Strukturen des Sommers 1940 anzuknüpfen. Es gab darüberhinaus zunächst eine ganze Reihe von Sonderinstanzen zur Organisierung der Partisanengruppen. Wenige Wochen später kam es landesweit zur Einrichtung von reinen Mordkommandos unter deutscher Führung. Ein weiterer, wichtiger Unterschied zu den Organisationsformen vom Sommer 1940 bestand in der nun starken Präsenz von rechtsradikalen und antisemitischen Personen in Schlüsselstellungen der Verwaltung und des Exekutivapparates. Das Beispiel Alytus zeigt aber auch, dass zum Teil die für die Verbrechen entscheidenden Positionen nicht von Mitgliedern der rechtsradikalen LNP, sondern von Kreischef Maliauskas und dem Chef der litauischen Sicherheitspolizei Zenkevičius, eingenommen wurden.
Die Zurückdrängung zentraler politischer Vertretungen der Litauer durch die deutsche Zivilverwaltung Anfang August 1941 hatte in diesem Kreis dagegen keine allzu grosse Bedeutung.

In den Massengräbern von Alytus sind über 50.000 Opfer verscharrt. Die deutsche Besatzungspolitik kostete hier über 2.500 kommunistische und jüdische Opfer, mindestens 20.000 sowjetische Kriegsgefangene und über 30.000 sowjetische Zwangsevakuierte aus dem Orelbogen, Brjansk, Ordshonikidsegrad sowie dem Gebiet südlich von Leningrad. Die erste Opfergruppe setzte sich aus Einheimischen zusammen. Die grosse jüdische Minderheit des Ortes und des Kreises Alytus sowie viele Repräsentanten des verhassten sowjetischen Regimes wurden innerhalb weniger Monate gejagt und ermordet. In diese Morde war die nichtjüdische lokale Bevölkerung involviert, manche Gruppen unter ihnen sehr aktiv, andere verhielten sich neutral, profitierten aber vom Eigentum der Ermordeten.


Im Jäger-Bericht heißt es, vom 13. August bis 9. September 1941 seien insgesamt 1137 Männer, 740 Frauen und 352 Kinder in Alytus ermordet worden.