Minsk

Transportliste

Am 14.11.1941 verließ der 4. Transport mit 1030 Juden
Berlin mit dem Ziel Ghetto Minsk. Infolge des großen Umweges kam der Transport erst am 18.11.1941 gegen 10 Uhr vormittags in Minsk an.

Bericht des Überlebenden Chaim Baram
Der Abschied von den Eltern war herzzerreißend. Jeder von uns wusste wohl in seinem Innern, dass es ein Abschied für immer war. Ordnungspolizisten trieben nach zwei Tagen die in der Synagoge Levetzowstraße festgehaltenen Frauen, Männer und Kinder zum Bahnhof Grünewald und zwangen sie dort in den bereitgestellten Zug der Reichsbahn. Dieser fuhr über Warschau in Richtung Minsk, die Fahrt dauerte vier Tage. Die Stimmung, war verschieden. Die Jugend singt, lacht und passt sich schnell der augenblicklichen Lage an. Die Eltern sind nachdenklicher und können sich nicht mit dieser Situation anfreunden; haben sie doch alles verloren, was sie bis zu diesem Tag aufgebaut haben. Am 18. November gegen 10 Uhr vormittags bleibt unser Zug stehen. Minsk, die Endstation so vieler von uns, ist erreicht. Ich weiss nie ob ich zufrieden sein kann oder nicht, denn ich ahne zukünftige Gefahren.

Ein Großteil der Deportierten wurde innerhalb des kommenden halben Jahres im Ghetto Minsk ermordet.

Bericht des Überlebenden Dr. Karl Löwenstein
Meine Verhaftung
Der Gestapo-Beamte Cilian hatte mich dem Polizeirevier mit dem Befehl übergeben, mich am gleichen Abend um 6 Uhr in der Sammelstelle Levetzowstrasse einzuliefern. Gleichzeitig teilte er dem Beamten und mir mit, dass ich unter der Nummer 170 in einem Transport eingereiht worden sei. Später sollte ich erfahren, dass dies die Nummer eines polnischen Schneidermeisters war, den die Gestapo ausgereiht hatte, um mich in den Transport einreihen zu können. Ich hoffe, dass dieser Schneidermeister am Leben geblieben ist.
Der mich zur Sammelstelle begleitende Polizeiwachtmeister tröstete mich und verabschiedete sich von mir, bevor er mich ablieferte, mit dem Wunsch, mich baldigst wiederzusehen.
In der Sammelstelle befanden sich einige hundert Kriminalbeamte, die mit Instruktionen versehen wurden, um Juden aus ihren Wohnungen abzuholen. Im Laufe der Nacht wurde 1050 Juden eingeliefert, von denen 20 am nächsten Vormittag wieder entlassen wurden, weil sie von ihren Arbeitgebern reklamiert worden waren.
Wohin der Transport gehen sollte, wusste natürlich niemand. Es wurde zwar gemunkelt, dass er nach Minsk gehen würde, aber auch andere Orte wurden genannt. Gewissheit bestand lediglich darüber, dass es nicht nach Riga oder Lodz ging, da diese Lager abgeschlossen seien.
Der uns zur Verfügung stehende Raum reichte bei weitem nicht aus, um 1030 Menschen unterzubringen. Ich war daher – wie viele andere auch – gezwungen, zwei Tage und Nächte auf einem Klappsitz zu verbringen. Bewegen konnte man sich nicht, überall lagen oder hockten Menschen herum.
Am 13. November gelang es meinem Bruder Benno mit Hilfe eines warmherzigen Polizeiwachtmeisters, mich kurz zu sprechen. Ich sollte ihn nie wiedersehen, er wurde ein Jahr später mit seiner Frau von den Nazis umgebracht.

Abreise
Und am 14. November sollte es tatsächlich nach Minsk gehen. Beim Verlassen der Sammelstelle, das nummernweise erfolgte, musste jeder seine Kennkarte vorweisen, auf die der Vermerk Am 14. November 1941 von Berlin nach Minsk evakuiert gestempelt wurde. Dieses Papier habe ich als einziges gerettet. Um uns vor der Bevölkerung zu verbergen, wurden wir in verdeckten Lastkraftwagen zur Bahn und bis an die Rampe gefahren.
Wir wurden in ehemaligen IV.-Klasse-Wagen untergebracht. Die Insassen froren entsetzlich, einer starb unterwegs. In Warschau hatten wir den ersten planmäßigen Aufenthalt bzw. wir sollten ihn haben. Auch zu trinken bekamen wir nichts die inzwischen leer gewordenen Trinkgefässe durften nicht aufgefüllt werden.

Ankunft in Minsk
Infolge des großen Umweges kamen wir erst am 18. November 1941 in Minsk an, das einen sehr zerstörten Eindruck auf uns machte.
Der Bahnhof von Minsk lag am anderen Ende der Stadt, so dass uns der Weg ins Lager endlos schien. Da wir sehr viele alte Menschen bei uns hatten, zog sich der Zug, den wir bilden mussten, bei dem Marsch weit auseinander, obwohl wir uns sehr langsam vorwärtsbewegten. Unser Ziel war die entgegengesetzt liegende Vorstadt von Minsk, wo schon Russen (weißrussische Juden) zusammengepfercht waren. Die Strassen waren vollkommen menschenleer.
Als wir im Lager eintrafen, stellten wir fest, dass wir der vierte Transport waren, der in Minsk anlangte. Kurz vorher war je ein Transport aus Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt/Main eingetroffen. Wir wurden zunächst auf einen großen Platz geführt. Auf der Schmalseite dieses Platzes war links ein roter Ziegelstein- und rechts ein weißer Steinbau. Beide Gebäude waren ehemalige Schulen, die von uns den Namen Rotes Haus und Weisses Haus‹ erhielten. Da die Hamburger zuerst eingetroffen waren, bestimmte die SS deren Transportleiter, Dr. Edgar Frank, zum Judenältesten.
Am Abend unserer Ankunft eröffnete uns der SS-Führer:
Ich habe für Euch Platz gemacht, indem ich 35 000 Russen umgelegt habe.
Dann las er uns vor, dass in Minsk Kriegsrecht bestünde, was alles verboten sei und dass jedes Übertreten eines Verbotes mit Erschießen bestraft werden würde. So hieß es erstens, zweitens, drittens usw.… wird erschossen, … wird erschossen, … wird erschossen. Gleichzeitig erklärte er, der Judenälteste besäße das Prügelrecht.
Es war für uns natürlich ein fürchterlicher Gedanke, dass unseretwegen 35 000 Menschen ihr Leben verloren haben sollten. Auch wurden wir wegen dieses Vorgangs von den Russen zunächst als ihre Feinde betrachtet, bis es uns gelang, sie davon zu überzeugen, dass wir doch genau so von den Nationalsozialisten verfolgt würden wie sie.
Die grüne Polizei fuhr mit ihren Lastkraftwagen unsere Koffer und die Lebensmittel, die uns die Gemeinde mitgegeben hatte, ins Lager, wo wir alles abladen mussten. Aber die Polizei wusste sich zu helfen: manches Gepäckstück erreichte das Lager überhaupt nicht.
Am nächsten Tage wurde mir, nachdem ich vergebens Einspruch dagegen erhoben hatte, die Aufstellung einer Ordner-Wache übertragen.
Die Lager
Es wurden, je nach Herkunft der Transportteilnehmer, verschiedene Lager gebildet. Auf diese Art entstanden das Hamburger Lager, in dem die aus Hamburg und Frankfurt am Main Stammenden untergebracht waren, das Berliner Lager, wo die Berliner und Brünner kampierten, das Lager Rheinland, das die Düsseldorfer aufgenommen hatte, das Bremer Lager, wo die Bremer, und das Wiener Lager, wo die Wiener hausten.

Wie wir wohnten
Die Minsker Vorstadt bestand zum größten Teil aus Holz-Reihenhäusern. Die Räume wurden uns so zugeteilt, dass auf jeden Bewohner 1,4 Quadratmeter entfielen.

Wasserversorgung
Soweit sich in den Häusern Wasserleitungen befanden, waren sie entweder eingefroren oder zerstört. Solange sich auf dem Hof Schnee befand, behalfen wir uns daher mit diesem.

Verpflegung
Für das gesamte Lager waren bis zum April 1942 im Hamburger Lager nur zwei Küchen vorhanden, von wo sich die anderen – das Wiener Lager war etwa eine halbe Stunde entfernt – die Suppe holten. Das Kochen dieser Suppen stieß insofern auf Schwierigkeiten, als für 7300 Personen nur zwei Waschkessel zur Verfügung standen. Es gab mittags pro Kopf 300 Gramm Wasser, in dem fünf Gramm Buchweizen pro Person gekocht wurden. Fett gab es nicht. Salz monatelang nicht. Als weitere Nahrung erhielten wir täglich 150 Gramm Brot. Dieses Brot war aus Buchweizenmehl gebacken und schmeckte scheusslich, und doch – wie hungerten wir danach, während die Pferde es ablehnten. Kein Wunder, dass in wenigen Wochen 700 Menschen an Entkräftung und der Lagerkrankheit – so nannten wir den Durchfall – starben. Der ungeheure Wärmeverlust durch den Mangel an Fett und die strenge Kälte des Winters 1941/42 trugen dazu bei, die Menschen ihrer Widerstandskraft zu berauben. Hinzu kamen die seelischen Leiden.
Tägliche Ronde mit Schmiedel
Jeden Tag musste ich mit dem aus Wien stammenden SS-Oberscharführer Schmiedel Ronde gehen, d.h. die verschiedenen Lager begehen. Und jeden Morgen fand dieser Mörder ein unglückliches Opfer, das er kurzerhand niederschoss. Sei es, dass der oder die Betreffende keinen Judenstern oder gelben Fleck trug, den die russischen Juden auf der Brust oder auf dem Rücken tragen mussten, oder ihn durch ein Schultertuch verdeckt hatte. Sei es, dass sie einen Weg gingen, der nach Ansicht dieses Mörders verboten war, denn dass er verboten war, konnte niemand wissen, da keine entsprechenden Tafeln aufgestellt waren. Sei es aus irgendeinem anderen – oder gar keinem Grunde.
Drei junge Mädchen aus Brünn, die bei einer Privatfirma arbeiteten, liessen sich verleiten, über Nacht fortzubleiben, um mit deutschen Zivilangestellten, die sich in sie verliebt hatten, auszugehen. Sie wurden in einem Lokal von einer SS-Streife gestellt und mit ihren Begleitern erschossen. Einige Männer, darunter ein Herr Conrad aus Brünn, nahmen Kleidungsstücke mit zu ihrer Arbeitsstätte, um sie gegen Lebensmittel einzutauschen. Sie wurden dabei ertappt und erschossen.
Der Arbeitseinsatz
Wir unterhielten in Minsk ein Büro, in dem drei Damen und zwei Herren beschäftigt waren, um die Befehle der vorgesetzten Behörde erfüllen zu können. Gleichzeitig waren alle von der SS und dem Generalkommissar für Weissruthenien, Wilhelm Kube, verlangten Arbeiten zu verrichten. Dieses Büro und der Arbeitseinsatz unterstanden bis zu seiner Verhaftung Spiegel. Später musste ich seine Aufgabe übernehmen. Die Tätigkeit bestand darin, die Anforderungen von Arbeitskräften seitens der SS, des Militärs, der Privatfirmen, der Organisation Todt und der Reichsbahn sowie anderer Dienststellen zu erfüllen. Wer am Abend fehlte, war ins Jenseits befördert worden. Ein Grund wurde nicht angegeben, wozu auch? Wir wussten ohnedies genug.
Der Luftwaffensoldat, der die bei der Luftwaffe beschäftigten Frauen abzuholen und zurückzubringen hatte, zeigte mir eines Abends seine blutbefleckte Hand und prahlte, er habe soeben eine Judensau erschossen, und so erginge es jeder, die sich vor der Arbeit drücke. Als ich mich voller Ekel abwandte, schoss er hinter mir her und seinen Patronenrahmen leer. Obwohl ich nur wenige Schritte von ihm entfernt war, traf mich keine Kugel. Er war nicht mehr zielsicher, aber es hätte auch anders kommen können.

Bestattungswesen
In der ersten Zeit versuchten wir, für unsere Toten Gräber zu schaufeln. Das sollte sich bald als aussichtslos erweisen, weil der Boden zu tief gefroren war oder nachfror. Die SS verlangte, dass die Toten ohne jegliche Bekleidung, also nackt, ins Grab gelegt wurden. Zur Strafe für die Nichtbefolgung dieser Anordnung – wir hatten die Toten in Leintücher gewickelt – mussten wir innerhalb von zwei Stunden insgesamt tausend Bettlaken, tausend Bettbezüge und tausend Kopfkissenbezüge an die SS abliefern.

Musikalische Darbietungen
Einige Lagerinsassen hatten Musikinstrumente mitgebracht. Da wir Künstler von Weltruf unter uns hatten, fiel es uns nicht schwer, ein Varietéprogramm aufzustellen. Leider hatte Dr. Frank die SS-Führer zu der Veranstaltung eingeladen. Sie amüsierten sich köstlich und … verboten am nächsten Tag alle weiteren Aufführungen.
Gemeinschaftsgeist
Es ist entschieden zu betonen, dass die Kameradschaft unter der Masse der Lagerinsassen geradezu hervorragend war. Jeder suchte dem anderen zu helfen, wo er nur konnte. Vielleicht war es die Ahnung des nahen Todes, die bewirkte, dass die gegenseitige Hilfsbereitschaft im Allgemeinen an erster Stelle stand. Wir waren – kurz gesagt – wie eine grosse Familie. Ich habe nie wieder ein so starkes Zusammengehörigkeitsgefühl kennengelernt wie es uns in Minsk miteinander verband.
In der Zeit vom 28. bis 30. Juli 1942 sind die aus Berlin, Bremen, Brünn, Wien stammenden Juden und ein Teil der Rheinländer, die in dem unteren Gebiet zusammengepfercht waren, liquidiert wurden. Die Hamburger Juden und der Hauptteil der Juden aus dem Rheinland, die in dem oberen Gebiet hausten, wurden am 8. Mai 1943 vernichtet. Damit hatte Minsk aufgehört für die deutschen Juden ein KZ oder besser gesagt, ein Vernichtungslager zu sein. Von den Berlinern kehrte ich als der einzige Überlebende zurück. Insgesamt hat Minsk neun Überlebende gehabt.
Die Gasautos
Sobald ein neuer Transportzug eingelaufen war, konnten die Insassen ihn ruhig und ungestört verlassen. Zu ihrer größten Verwunderung wurden sie weder angeschrien noch gehetzt. Dann wurden sie mit Lastkraftwagen zu einer etwa vierzehn Kilometer entfernten Wiese gefahren, wo verhältnismäßig gut aussehende Wohnwagen bereitstanden. Wenn der Wagen so voller Menschen war, dass niemand mehr hineinging, wurden die eisernen Türen zugeschlagen, und dann, ja dann wurde der Motor angelassen, und das Auspuffrohr brachte das tödliche Gas in das Innere des Wagens.
Trotz alledem wird der Name Minsk verhältnismäßig schnell in Vergessenheit geraten, denn Minsk hat so gut wie niemand überlebt.

Meine Rettung
Wie wurde ich gerettet, wie entkam ich der Hölle von Minsk?
Eines Tages wurde ein Verzeichnis der Kriegs- und Friedensausgezeichneten verlangt. Da ich dreifacher Lebensretter bin, die Rettungsmedaille am Band besitze und noch 1936 durch die Hitlerregierung für eine Rettung vom Tode des Ertrinkens im Jahre 1935 ausgezeichnet werden musste, wurde ich, und zwar als einziger, gemeldet.
Neugierig geworden, kam Kube ins Lager, um mich zu sprechen. Er nahm an, ich sei verwandt mit einem Fräulein Loewenstein, Tochter des Justizrates Loewenstein aus Paderborn.
Darauf Kube:
Ich verkenne Sie durchaus nicht, wir kennen uns, wir haben zusammen studiert. Achselzucken meinerseits, da ich ihn tatsächlich nicht erkannte.
Bevor wir uns trennten sagte Kube: Passen Sie auf, es besteht ein Führerbefehl, wonach hohe Kriegs- und Friedensausgezeichnete, und das sind Sie, nach Deutschland kommen sollen. Reichen Sie mir noch heute Ihren Lebenslauf durch Dr. Frank ein. Ich fahre nämlich ins Führerhauptquartier und werde bei dieser Gelegenheit Ihre Angelegenheit vortragen. Am 12. Mai 1942 wurde mir durch SS-Obersturmführer Lüttenhaus eröffnet, dass meine Abreise für den nächsten Tag angesetzt war. In Wien wurde ich im Rothschild-Palais dem Hauptsturmführer Anton Brunner vorgeführt, der mich in der Sperrlgasse, dem Sammellager für den Osten, einen Tag einsperren ließ. Am 17. Mai 1942 wurde ich durch einen SS-Scharführer im Schnellzug in einem Abteil zweiter Klasse von Wien nach Theresienstadt gebracht, wo wir abends ankamen.