Ghetto Riga

Transportliste

Die Deportationen nach
Riga im Winter 1941/42 erfolgten in zwei Zeitabschnitten, die lediglich durch die für die Urlauberzüge der Wehrmacht während der Weihnachtszeit 1941 eingelegte allgemeine Reisesperre zeitlich getrennt waren. Am 10. Dezember 1941 traf der erste für das Rigaer Ghetto bestimmte Zug aus Köln ein. Ihm folgten im Abstand von zwei oder drei Tagen vier weitere: Am 12. Dezember 1941 der Deportationszug aus Kassel, am 13. Dezember 1941 der Zug aus Düsseldorf, am 16. Dezember 1941 der Zug aus Münster, Osnabrück und Bielefeld sowie am 18. Dezember 1941 der Zug aus Hannover. Die Ankunftsdaten konnten sich in den Erinnerungen der Überlebenden um einen Tag verschieben, da manche Züge, nicht nur der aus Düsseldorf, in der Nacht eintrafen und die Menschen in den ungeheizten Wagen bis zum nächsten Morgen ausharren mussten. Soweit bekannt, gelangten 5073 Menschen im Dezember 1941 nach dem Ghetto von Riga.

Der Transport mit der Zugnummer Da 38, dem nur 21 Düsseldorfer Juden zugeordnet waren, setzte sich überwiegend aus Mitgliedern von über 40 umliegenden jüdischen Gemeinden zusammen.

Ortsliste soweit bekannt:
Alpen
Anrath
Breyell
Bruggen-Bracht
Dinslaken
Dulken
Dusseldorf
Duisburg
Dormagen
Emmerich
Friemersheim
Garzweiler
Goch
Grefrath
Grevenbroich
Hamborn
Hochneukirch
Huls
Issum
Juchen
Kaldenkirchen
Kamp-Lintfort
Kempen
Kleve
Korschenbroich
Krefeld
Langenfeld
Lank
Lobberich
Meerbusch-Osterath
Monchengladbach
Monhei
Moers
Mulheim/Ruhr
Neuss
Oberhausen
Odenkirchen
Oedt
Opladen
Rees
Rheinhausen
Rheyd (Geburtsort Joseph Goebbels)
Ruhrort
St. Hubert
St. Tonis
Straelen
Suchteln
Uedem
Viersen
Waldniel
Wesel
Wewelinghofen
Wickrath
Willich

Geschlechtsgliederung
416 Männer
591 Frauen
= 1007

Altersgliederung
1- 6 Jahre 41
6-14 Jahre 62
14-18 Jahre 62
18-50 Jahre 408
über 50 Jahre 454
= 1007

Berufsgliederung
Akademiker 3
selbstr. Kaufleute 30
Angestellte 22
Handwerker 137
Arbeiter 247
landw. Berufe 7
Hausangestellte 40
ohne Beruf 521
= 1007

Sie alle waren tags zuvor am Düsseldorfer Hauptbahnhof eingetroffen und mussten sich von dort aus zu Fuß zum Schlachthof im Stadtteil Derendorf, Rater Straße 3, begeben, der für diesen Transport als Sammellager diente. Am 11. Dezember 1941, gegen vier Uhr morgens, traten die Juden den Weg zum
Güterbahnhof Derendorf an.
Die Abfahrt des Transportes war fur 9.30 Uhr morgens vorgesehen, die Reichsbahn konnte jedoch den Sonderzug, wegen angeblichen Personalmangels, nicht so fruh zusammenstellen, so dass mit der Einladung der Juden erst gegen 9:00 Uhr begonnen werden konnte. Das Einladen wurde, da die Reichsbahn auf eine moglichst fahrplanmasige Ablassung des Zuges drangte, mit der grösten Hast vorgenommen. Es kam daher vor, dass einzelne Wagen uberladen waren (60 bis 65 Personen), wahrend andere nur mit 35 - 40 Personen besetzt waren. Auf der Transportliste stehen 1 010 Namen, drei Namen sind durchgestrichen, von Hand geschriebene Randbemerkungen geben den Grund an. Beispiel Leo Goldschmidt "tot". (Sohn des Kempener Viehhändlers Albert Goldschmidt, zuletzt Wohnhaft im Judenhaus Schulstraße 10)

Aus dm Bericht des Transportführers Hauptmann Salitters vom 26. Dezember 1941
Die Verladung der Juden war gegen 10.50 Uhr beendet. Nach mehrmaligem Rangieren verlies der Zug dann gegen 10.30 Uhr den Guterbahnhof Dusseldorf-Derendorf in Richtung Wuppertal, also schon mit einer Verspatung von einer Stunde. Nach dem letzten Rangieren in Dusseldorf stellte ich fest, dass der Wagen des Begleitkommandoss (2. Klasse) anstatt in die Mitte des Zuges am Ende der Personenwagen, also als 21. Wagen einrangiert worden war. Hinter unserem Wagen befanden sich dann die 7 mit Gepack beladenen Guterwagen.
Die falsche Einrangierung des Begleitwagens hatte folgende Nachteile:

a) Der Dampfdruck erreichte infolge fehlerhafter Heizungsanlagen die hinteren Wagen nicht. Infolge der Kalte konnte die Kleidung der Posten nicht trocknen (fast wahrend des ganzen Transportes regnete es), so dass ich mit Ausfallen durch Erkrankungen zu rechnen hatte.

b) Dem Transportführer ging die Ubersicht uber den Zug verloren. Wenn auch die mitgeführten Scheinwerfer gute Dienste leisteten, so hatten die Posten auch bei jedem Halten einen zu weiten Weg zur Aufsicht über die ersten Wagen zurückzulegen und oft Mühe, bei plötzlicher Abfahrt des Zuges noch den Wagen des Begleitkommandos zu erreichen. Auserdem versuchten die Juden immer wieder, sofort nach dem Halten in Bahnhofshallen mit dem reisenden Publikum in Verbindung zu treten, Post abzugeben oder sich Wasser holen zu lassen. Ich musste mich daher entschliesen, 2 Posten in einem Abteil des vorderen Personenwagens unterzubringen. Meine diesbezüglichen Einwendungen auf dem Abgangsbahnhof Düsseldorf blieben unberücksichtigt, und der Zug wurde mit der Bemerkung abgefertigt, dass infolge der Verspätung in Düsseldorf eine Umrangierung des Wagens des Begleitkommandos nicht mehr erfolgen konne. Die Umrangierung des Wagens konne auch unterwegs erfolgen.

Um 10 Uhr 30 verlässt der Sonderzug der Reichsbahn die Bahnhofsstation Düsseldorf-Derendorf. Am 12. Dezember 1941 um 03:30 Uhr erreicht der Zug den Bahnhof Berlin-Lichterfelde, hier hat er eine halbe Stunde Aufenthalt. Der Zug hat bereits 155 Minuten Verspätung.

Auch die Feststellung, dass Juden immer wieder versuchen, nach dem Halten in einem Bahnhof mit dem reisenden Publikum in Verbindung zu treten, Post abzugeben oder sich Wasser holen zu lassen, ist wiederum ein Beleg dafür, dass die Deportation in aller Öffentlichkeit stattfindet, indem belebte Bahnhöfe passiert werden. Die Kunden der Reichsbahn können sich zumindest Gedanken machen, wieso die Menschen mit dem Judenstern aus den Zugfenstern ihre Kinder hoch halten und um Wasser betteln bis die Ordnungspolizei kommt und das Geschehen unterbindet. Salitter muss seine Männer wiederholt zur Räson bringen, die ein gewisses Mitgefühl für die Deportierten zeigen, muss sie daran erinnern, dass es sich um Juden handele, die keine Vergünstigungen erhalten dürfen. Kurz vor Konitz reißt der Wagen wegen seiner Überlastung auseinander. Auch reißt das Heizungsrohr. Der Stationsvorsteher in Konitz drängt auf Weiterfahrt, weil ein Rangieren nicht möglich ist. Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel mit dem Transportkommandanten, der mit Beschwerde an die zuständige Aufsichtsbehörde droht. Es ist Gefahr im Verzuge, weil zwei Gegenzüge erwartet werden. Zwei obrigkeitsstaatliche Amtsträger des NS-Staates streiten sich: Der Stationsvorsteher stellte sogar das Ansinnen an mich, empört sich Salitter, einen Wagen inmitten des Zuges von Juden zu räumen, ihn mit meinem Kdo. zu belegen und die Juden im Begleitwagen 2. Klasse unterzubringen. Da hat er aber falsch gewettet, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ist das gar passiver Widerstand gegen eine Judendeportation? Salitter, ganz auf eine rigide Judenpolitik eingeschworen, wittert einen verkappten Widerstand gegen seinen Auftrag: Es scheint angebracht, diesem Bahnbediensteten von maßgebender Stelle einmal klarzumachen, daß er Angehörige der Deutschen Polizei anders zu behandeln hat als Juden. Er habe den Eindruck gehabt, so Salitter einmal in Fahrt, als ob es sich bei dem Reichsbahner um einen der Volksgenossen handele, die immer noch von den armen Juden zu sprechen pflegen und denen der Begriff Jude völlig fremd seien.
Für Salitter der sich nach 1945 bei Vernehmungen nicht mehr erinnern kann, (dies ist bei deutschen Politikern und Beamten üblich), sind Juden keine vollwertigen Menschen, denen in keinem Fall die Fahrt in der Eisenbahnklasse II zugestanden werden darf. Und da kommt dieser Eisenbahner daher und stellt sogar das Ansinnen an den Transportkommandanten, seine arischen Polizisten in ein Abteil umzusetzen, in dem vorher Juden gesessen haben. Welch eine Zumutung! Und Salitter ist nachgerade fassungslos, dass es innerhalb der Reichsbahnbediensteten noch Eisenbahner gibt, die ein wie auch immer geartetes Mitgefühl für Juden haben und sich damit gegen die geltende judenfeindliche Staatsräson stellen. Ein solcher Mann, der sich mit Juden gemein macht, gehört höheren Orts strengstens gemaßregelt.
Der Zug kann jedoch, behelfsmäßig repariert, seine Fahrt fortsetzen. Eine Stunde unfreiwilliger Aufenthalt auf einem Nebengleis in Konitz. Die Transportopfer werden erstmals mit Wasser versorgt. Für die Begleitmannschaften steht das Deutsche Rote Kreuz mit einer Erfrischung beflissen bereit.

Am 13. Dezember 1941 um 05:15 Uhr erreicht der Zug die Grenzstation Laugszargen. Das Deutsche Rote Kreuz war über die Ankunft des Zuges informiert, und hatte für die Begleitmannschaften Erfrischungen und warme Verpflegung bereit gestellt. Es wurde Graupensuppe mit Fleischeinlage ausgegeben. Das Deutsche Rote Kreuz hat in Nazi Deutschland beschämende Weise vermissen lassen, den Juden die einfachste humanitäre Hilfe zukommen zu lassen und ist damit tief verstrickt in die Verbrechen der Nazis. Während die Begleitmannschaften auf dem Bahnhof von Schaulen bewirtet werden, wird in allen Judenwagen durch litauisches Eisenbahnpersonal die Lichtzufuhr abgestellt.

Die Ankunft des Sonderzuges verzögerte sich aufgrund personeller Schwierigkeiten bei der Reichsbahn um etwa vier Stunden. Der Zug erreicht Riga am 13. Dezember 1941 gegen 21:50 Uhr. Es hatte inzwischen Schneetreiben mit Frost eingesetzt. Die Außentemperatur beträgt bereits 12 Grad unter Null. Bei einem Telefonanruf mit dem Diensthabenden Offizier in Riga, stellt Salitter fest, das die Juden nicht für das Rigaer Ghetto das überfüllt war, sondern für das etwa acht Kilometer südöstlich von Rigas Innenstadt gelegene Ghetto Skirotava bestimmt waren. Der Zug mußte mehrmals Hin- und Herrangieren und erreicht die Militärrampe auf dem Bahnhof Skirotava gegen 23.35 Uhr. Zunächst übernehmen die Fünfzehn Mann der uniformierten Polizei die Bewachung (Außensicherung) des Zuges. Gegen 01:45 Uhr trifft das zugesagte lettische Wachkommando, bestehend aus sech lettischen Hilfspolizisten ein, und übernimmt den Wachdienst. Da es bereits nach Mitternacht ist, die Verladerampe stark vereist und das deutsche Peronal im Ghetto Skirotava nicht vor Hellwerden zur Verfügung steht, soll die Ausladung und Überführung der Juden in das 2 km entfernte Sammelghetto erst am Morgen früh beim Hellwerden erfolgen.

Das Begleitungkommando wird mit bereitgestellten Fahrzeugen zum Petersburger Hof, Am Schloßplatz 4 in Riga gebracht, wo sie eine Angenehme Nacht verbringen (Im Petersburger Hof wurde 1921 der Friede von Riga geschlossen, der den russisch-polnischen Krieg beendete).

Am 14. Dezember 1941 von 13 - 16 Uhr steht für die Angehörigen des Begleitkommandos Waffenreinigung und Instandsetzung von Kleidung und Gerät auf dem Tagesplan. Doch es bleibt genügend Zeit, die schöne Stadt Riga, zu bewundern. Am 15. Dezember 1941 Vormittags, werden noch die mitgeführten 50.000 Reichsmark „Judengelder“ der Staatspolizei in Riga übergeben, Um 15:01 Uhr treten die Männer mit dem einzigen Zug, der von Riga nach Tilsit verkehrt, ihre Heimreise nach Düsseldorf an. Für die Rückfahrt, sind 46 Stunden eingeplant. Auf der Rückfahrt wird zudem so manche Flasche geleert, den Hauptmann Salitter feiert seinen 43 Geburtstag. Dreieinhalb Tage Abwechslung vom eintönigen Dienst liegen hinter den Polizisten. Dazu Reisespesen und ein kleines Mitbringsel für die Braut, die Ehefrau, die Kinder. Der Dienst als deutscher Beamter kann so schön sein, wenn man auf der richtigen Seite steht. Man darf auch nicht vergessen, dass damals einfache Polizisten aus dem Rheinland, unter normalen, Umständen kaum die Möglichkeit zu einer Städtereise nach Riga gehabt hätten.

Verantwortliche dieses Transportes waren:

Hauptorganisator der Sonderzüge in den Tod
Staatssekretär Dr. Albert Ganzenmüller (Reichsbahn)

SS-Ogruf.u.Gen.d.W SS u.Pol.
Karl Gutenberger

Transportführer (Kommandeur)
Hauptmann Salitter von der Schutzpolizei

Transportbegleitung
Fünfzehn Mann der uniformierten Polizei
vorgeschriebene Bekleidung:
Anzug besteht aus Dienstanzug, Stahlhelm, außerdem Feldmütze, Brotbeutel,
Trinkflasche, Eßbesteck, Waschzeug usw. Bewaffnung: Pistole, Karabiner mit
Munition.

Lebensmittelzuteilung für das Begleitkommando für 10 Tage:
2 Flaschen Schnaps, 3 Dosen Kondensmilch, 2 Schachteln Käse, ½ Pfund Butter, 13 Würste, Tabak, Streichhölzer und ein Fläschchen Kölnisch Wasser.
40 Reichsmark Reisekostenzuschuss

Fernschreiben II B 4/71.02/1300/41 an Reichssicherheitshauptamt, Referat IV B 4 SS-Stubaf. Eichmann, Berlin.
Betrifft: Evakuierung von Juden; Vorgang: Bekannt, Düsseldorf 12. Dezember 1941.
zu Händen von SS-Oberstubaf. Eichmann in Berlin und an den Befehlshaber der Sipo und des SD Einsatzgruppe A, zu Händen von SS-Stubaf.. Dr. Lange in Riga.
Der Transportzug der Reichsbahn DO 38 in Richtung Riga mit insgesamt 1 007 Juden geleitet von Transportführer Salütter hat Düsseldorf-Derendorf verlassen. Die Transportinsassen würden an Verpflegung Brot, Mehl, und Hülsenfrüchte für 21 Tage mitführen, sowie an Zahlungsmitteln 50.000 RM in Reichskreditkassenscheinen.

Streckenverlauf:
Düsseldorf-Derendorf - Wuppertal - Hagen - Schwerte - Hamm - Hannover-Linden - Misterhorst - Stendal - Wustermark - Berlin-Lichterfelde - Kustrin - Kreuz - Schneidemuhl - Firchau - Konitz - Dirschau - Marienburg - Elbing - Konigsberg - Insterburg - Tilsit - Laugesargen - Tauroggen - Schaulen - Mitau - Riga (Bahnhof) - Skirotawa (Bahnhof)

Erinnerungen von Hilde Sherman-Zander an ihre Deportation nach Riga
Gegen vier Uhr morgens wurden wir hinausgeführt. Es war sehr kalt, und wir drängten uns
aneinander, um uns gegenseitig zu wärmen.
Dann nahmen uns die Gestapoleute die Taschenlampen ab. Plötzlich schlugen sie einem jungen Mann mit einem Gummiknüppel über den Kopf. Er sackte zusammen und blieb auf der Rampe liegen. Dort lag er drei Stunden später immer noch, der erste Tote unseres Transports.
In Düsseldorf.
In Deutschland.
Als die Morgendämmerung einsetzte, fuhr ein Zug vor. In die beiden letzten Waggons wurden unsere Koffer verladen. Wir kamen in Personenabteilen unter, acht Personen in einem Abteil: meine Schwiegereltern, meine Schwägerin Grete mit ihrem Mann Alfred Cohnen, Alfred und Herbert Winter, Kurt und ich. Im Nebencoupé drängten sich Familie Herzog und weitere sechs Personen, alle aus Krefeld. Gegen neun Uhr setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Es war der 11. Dezember.
In unserem Abteil herrschte eine Bullenhitze. Wir alle fielen in Halbschlaf, der keine Erquickung brachte. Am späten Nachmittag fuhr der Zug in Berlin ein, am Anhalter Bahnhof. Wir durften nicht aussteigen, um Wasser zu holen. Am nächsten Morgen fuhren wir endlich weiter. Fast alle hatten die Schuhe ausgezogen, weil die Beine bei der Hitze im Abteil geschwollen waren und feuerrot bis zu den Knien. Fanny, meine Schwiegermutter, Herbert und Kurt hatten Fieber und entsetzlichen Durst. Ich war die einzige im Abteil, die nicht gewagt hatte, die Stiefel auszuzie hen, aus Angst, sie wegen der Frostbeulen nicht wieder anzukriegen. Gegen Mittag blieb der Zug auf offener Strecke stehen, kurz hinter Schneidemühl. Die Begleitmannschaft riss die Türen auf und erlaubte uns auszusteigen, um Schnee zu sammeln, zum Auftauen als Trinkwasser.
Ich konnte eine Menge Kochgeschirr mit Schnee füllen und zum Abteil hinaufreichen und war glücklich, kurze Zeit die frische Luft und die herrliche Sonne zu fühlen. Welch ein Glück, dass ich die Stiefel nicht ausgezogen hatte! So hatten wir Trinkwasser im Abteil. Sobald alle Schneesammler eingestiegen waren, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Aber in
entgegengesetzter Richtung. Dahin, woher wir gekommen waren! Keiner hatte eine Ahnung, was das bedeuten sollte. Bei jeder Biegung konnten wir sehen, dass die beiden letzten Waggons mit unseren Koffern noch angehängt waren. Welch eine Beruhigung.
Knapp zwei Stunden später hielten wir abermals auf offener Strecke. Erst kurz nach Mitternacht setzte sich der Zug wieder in Bewegung und fuhr nun durch bis Insterburg. Dort hielten wir am Bahnhof und durften Wasser holen. Am Ende des Bahnsteigs sah ich einen Briefkasten; es gelang mir, eine Postkarte, die ich an meine Eltern geschrieben hatte, einzuwerfen, ohne erwischt zu werden. Die Leute aus anderen Waggons, die wir bei den Wasserleitungen trafen, sagten uns, dass der ganze Waggon voller Kinder ungeheizt sei. Mehrere hatten bereits Erfrierungen erlitten. Und in unserem Abteil gingen wir fast ein vor Hitze.
Nachdem der Zug Memel passiert hatte, veränderte sich das Bild zusehends. Jetzt fuhren wir
durch öde, eintönige, trostlose Winterlandschaft. Nur ab und zu tauchte eine Kate auf, mit tief heruntergezogenem Dach, das von der Schneelast fast erdrückt wurde. Daneben ein Ziehbrunnen. Manchmal standen die Bewohner vor ihren Häusern, tief vermummt in Schafspelz, Pelzmützen auf dem Kopf; die Frauen trugen dicke Kopftücher, alle hatten Filzstiefel an. Ein unglaublich deprimierender Anblick. Wenn das die „arische“ Zivilbevölkerung Litauens war, was sollte dann aus uns Juden werden?
Und weit und breit nur Schnee, Schnee, Schnee ...
Als es dunkel wurde, blieb der Zug in der Einöde stehen. Gegen Morgen fuhren wir weiter, um nach ein paar Stunden wieder anzuhalten. Als es hell wurde, sahen wir, dass wir an einem winzigen Bahnhof standen. Keiner hatte eine Ahnung, wo wir uns befanden. Es war bitterkalt. Aber die Sonne ging auf und tauchte die ganze Landschaft in gleißendes, bläuliches Licht. Gegen neun Uhr morgens hörten wir Hundegebell, dann sahen wir die SS kommen. Sie pflanzten sich an beiden Seiten des Zuges auf. Die Türen wurden aufgerissen: „Alles raus, aber schnell!“ Dann mussten wir die Abteile saubermachen, mit bloßen Händen.
Wir wurden in Fünferreihen aufgestellt. Dann fuhr Obersturmführer K. vor, mit seinem
Adjutanten „Gymnich“ und einem Schäferhund. K. stellte sich in Positur: „Ich bin euer
Ghettokommandant, vom Ghetto in Riga, Lettland. Abteilung — marsch!“
Ein Mann aus unserem Transport, ein Herr Meyer, der bei seiner Frau stand und seine
zwei kleinen Jungen von ungefähr drei und fünf Jahren auf den Armen trug, ging auf K. zu
und fragte sehr höflich: „Herr Kommandant, ist es sehr weit bis zum Ghetto?“
Statt jeder Antwort hob K. seinen schwarzen Krückstock mit silbernem Knauf und
schlug Herrn Meyer damit ins Gesicht. Die beiden Kinder fielen auf den Boden, der
Schäferhund sprang Meyer an und riss ihn um. K., Gymnich und Schäferhund drehten sich
um, bestiegen ihr Auto und fuhren davon. Herrn Meyers Mund war eine blutige Masse,
seine beiden Vorderzähne waren eingeschlagen.
Unser Transport setzte sich in Bewegung: 1.079 Menschen. Wie eine endlose Schlange
wälzte er sich durch die Schneelandschaft.
Die Bevölkerung zeigte sich in den Haustüren, sehr passiv und ablehnend uns gegenüber. Nur wenn irgendwer sein Handgepäck nicht mehr tragen konnte, versuchten sie, es an sich zu nehmen. Die SS schaute dann geflissentlich weg. Endlich tauchten von weitem niedrige, verkommene Holzhäuser auf, dazwischen stand ab und zu ein Steinhaus. Wir waren in der Altstadt von Riga, in der sogenannten Moskauer Vorstadt. Alle waren sehr erschöpft, der
Schnee begann in der Sonne zu tauen, es herrschte fürchterliches Glatteis, wie wir es noch nie erlebt hatten. Nach einer Weile bog die Kolonne scharf nach rechts ab, es ging über einen winzigen Hügel nach links auf eine menschenleere Straße, dann wurden Tore hinter
uns geschlossen, und wir waren am Ziel: im Ghetto von Riga, Lettland.

Opfer

Rosen Alfred
geboren am 14. Juli 1890 in München-Gladbach
wohnhaft in München Gladbach
† Januar 1942 im KL Riga-Salaspils
Alfred Rosen spielte in seiner Jugend bei Borussia Mönchengladbach. Nach der NS-Machtübernahme musste sich der Kaufmann dem jüdischen Verein Schild Mönchengladbach anschließen, wo er Mitte der 1930er-Jahre auch als Schiedsrichter tätig war. Im Dezember 1941 wurde er in das Ghetto Riga deportiert und zwei Monate später im Lager Riga-Salaspils ermordet.

Zeitzeugenbericht

Der für den 11.12.1941 vorgesehene Judentransport umfasste 1.007 Juden aus den Städten Duisburg, Krefeld. Die Ablassung des Transportes war für 9.30 Uhr vorgesehen, weshalb die Juden bereits ab 4.00 Uhr an der Verladerampe zur Verladung bereitgestellt waren. Die Reichsbahn konnte jedoch den Sonderzug, angeblich wegen Personalmangels, nicht so früh zusammenstellen, so dass mit der Einladung der Juden erst gegen 9.00 Uhr begonnen werden konnte.“ Menschenverachtender und emotionsloser kann man den Verladevorgang kaum beschreiben. Man denkt unwillkürlich an Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird, nicht an Menschen. Und tatsächlich handelte es sich bei dem Güterbahnhof Derendorf um die Verladestation des Düsseldorfer Schlachthofes.
Einige Opfer versuchten, der Deportation durch Selbstmord oder Flucht zu entgehen:
Ebenfalls hatte sich eine ältere Jüdin unbemerkt von der Verladerampe, es regnete und war sehr dunkel, entfernt, sich in ein nahe liegendes Haus geflüchtet, entkleidet und auf das Klosett gesetzt. Eine Putzfrau hatte sie jedoch bemerkt, so dass auch sie dem Transport wieder zugeführt werden konnte. Die Verladung der Juden war gegen 10.15 Uhr beendet.
Nach mehrmaligem Rangieren verließ der Zug dann gegen 10.30 Uhr den Güterbahnhof
Düsseldorf-Derendorf in Richtung Wuppertal. Die Fahrt verlief dann planmäßig und berührte folgende Städte: Wuppertal, Hagen, Schwerte, Hamm. Infolge des eingleisigen Bahngeländes und der Zweitrangigkeit des Zuges in der Abfertigung gab es auf den Bahnhöfen oft lange Verzögerungen in der Weiterfahrt. Auf dem Bahnhof Schaulen wurde die Begleitmannschaft von Schwestern des Roten Kreuzes ausreichend und gut verpflegt. Es wurde Graupensuppe mit Rindfleisch verabfolgt.“

Zeitzeugenbericht

Am 13. Dezember erreichte der Transport gegen 22.00 Uhr dann endlich Riga, wo der Zug auf dem Bahnhof 1½ Stunden festgehalten wurde. Hier stellte ich fest, dass die Juden nicht für das Rigaer Ghetto bestimmt waren, sondern im Ghetto Skirotawa, 8 km nordostwärts von Riga, untergebracht werden sollten. Am 13.12., um 23.35 Uhr, erreichte der Zug nach vielem Hin- und Herrangieren die Militärrampe auf dem Bahnhof Skirotowa.
Der Zug blieb ungeheizt stehen. Die Außentemperatur betrug bereits 12 Grad unter Null. Da es bereits nach Mitternacht war, Dunkelheit herrschte und die Verladerampe stark vereist war, sollte die Ausladung und die Überführung der Juden in das noch 2 km entfernt liegende Sammelghetto erst am Sonntag früh beim Hellwerden erfolgen.

Zeitzeugenbericht von Erna Valk

Am 10. Dezember 1941 wurde ich, weil Jüdin, zusammen mit meinem Manne evakuiert, d.h. wir wurden aus unserem Vaterlande vertrieben. Der in Goch tätige Kriminalbeamte Kamper, der im Auftrage der Gestapo arbeitete, holte uns morgens früh in der Wohnung ab, die er verschloss. Er hatte kein gutes Wort für uns übrig und brachte uns nach Krefeld zum Zuge nach Düsseldorf, wo wir in die Hände der SS kamen. Einen kurzen Leidensweg machten wir vom Bahnhof bis zur Schlachthalle Düsseldorf. Wir mussten mit unserem Gepäck ziemlich schnell laufen. Alte, Kranke, Kinder. Es gab Fußtritte. Die Düsseldorfer standen an den Fenstern und Türen und einige weinten. Die Schlachthalle nahm uns auf, wo wir zu einem Transport von 1000 gesammelt wurden. Wir standen in der nassen Halle, ca. 24 Stunden. Jeder einzelne wurde einer Leibesvisitation unterzogen, und es wurden ihm alle wertvollen Sachen, doppelte Leibwäsche und das gesamte Reisegepäck abgenommen, ebenso alle Papiere. Am anderen Morgen standen wir stundenlang an einem Düsseldorfer Güterbahnhof. Die Kinder lagen im Schnee und weinten. Endlich fuhr unser Extrazug ab nach Riga. Wir waren 3 Tage unterwegs in einem ungeheizten Zuge ohne Wasser und Verpflegung. Abends kamen wir in Riga an und wurden bei 40° Kälte erst am anderen Morgen ausgeladen – Skirotava Güterbahnhof. Viele, besonders Kinder, hatten schon von dieser Nacht Frostschäden. SS-Posten brachten uns in das Ghetto-Riga. Das war ein Stadtviertel, worin früher die Verbrecherwelt gewohnt hatte und wo man später sämtliche Juden Rigas zusammengepfercht hat. Einige Tage vor unserem Einzug in das Ghetto wurden diese dort umgebracht. Es waren mehr als 24.000. Das Blut lag noch auf der Straße und wir dachten, dass uns dasselbe Los beschieden wäre. Doch uns sollte man nach Goebbels´ Äußerung langsam eingehen lassen wie Blumen, denen man kein Wasser gibt. Die Wohnungen, in die wir hineingetrieben wurden, waren in einem fürchterlichen Zustande, ähnlich denen nach einem Bombenangriff. So hatte die SS dort gehaust. Alles Wertvolle hatten sie geraubt. Die Schränke waren umgeworfen und alles lag durcheinander. Das gefrorene Essen stand auf dem Tisch, so wie die Menschen ihn verlassen hatten, als die Mörder kamen. Ich war sehr unglücklich, und trotzdem musste ich wie die anderen darangehen, die kleine Stube aufzuräumen, welche für 3 Familien ausreichen musste. Wir suchten und fanden in Abfallgruben gefrorene Kartoffeln und Möhren, die wir uns kochten. Hunger war schon groß und trieb´s herein. Die ersten 8 Tage keine Lebensmittelzuteilung und das, war wir essen mussten füttert man hier nicht den Schweinen. Später bekamen wir 230 gr. Brot täglich und etwas Nährmittel.

Zeitzeugenbericht

Die Deportation nach Riga war für Donnerstag, den 11. Dezember 1941 vorgesehen. Von Düsseldorf aus sollte der Zug Juden vor allem aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf und damit auch aus Krefeld nach Riga bringen. Am Tag zuvor wurde die etwa 140 Personen umfassende Gruppe aus Krefeld begleitet von Polizisten, mit einem regulären Zug in reservierten Waggons nach Düsseldorf gebracht. Um die Tarnung der Endlösung als Umsiedlung in den Osten aufrechtzuerhalten, waren den Betroffenen Listen gegeben worden, mit den erlaubten und empfohlenen Gepäckstücken. Bis zu 50 Kilogramm Gepäck pro Person durfte mitgenommen werden. So wird auch die Familie Albersheim-Eichenwald versucht haben, möglichst viel ihrer Habe mitnehmen zu können. Hatten sie auch, wie in den Listen erlaubt, Koch- und Essgeschirr dabei; Nägel und Wandhaken, Schuhputzzeug, Kleiderhaken und Ösen usw. eingepackt? Wieviel Spielzeug konnten Rolf-Dieter und Eva mitnehmen? Wie auch immer - in Riga sollten sie nichts von dem, was in Düsseldorf bürokratisch genau in Gepäckwagen verstaut worden war, wiedersehen.
Vom Düsseldorfer Hauptbahnhof mussten alle zu Fuß nach Düsseldorf-Derendorf laufen. Bei diesem Zug durch die Stadt schaute man ihnen heimlich hinter Gardinen versteckt nach. Es geschah öffentlich, nicht im Stillen - man konnte wissen, wenn man wollte. In Derendorf wurden sie im Schlachthof gesammelt. Insgesamt kamen 1007 jüdische Männer, Frauen und Kinder dort zusammen.
Jeder wurde auf Wertsachen durchsucht. Sie mussten sich nackt ausziehen. Wenn ihnen die Kleider und das Handgepäck zurückgegeben wurden, fehlte bereits manch ein kostbares Erinnerungsstück. Die Nacht verbrachten sie im kalten Schlachthof stehend oder auf dem nasskalten Boden hockend. Um 4 Uhr am Morgen mussten sie sich an der Verladerampe bereitstellen, doch stand der Zug erst nach 5 Stunden ermüdenden Wartens in der Dezemberkälte um 9 Uhr zum Einsteigen bereit. Offenbar ging das Einladen in Passagierwagen der 3. Klasse dann sehr hektisch vonstatten, denn einzelne Wagen waren überfüllt, andere halb leer. Eltern wurden von ihren Kindern getrennt und erst bei weiteren Halts im Laufe der Fahrt zusammengeführt – Rolf Dieter und Eva auch? Weil die Heizung nicht richtig funktionierte, waren einige Wagen sehr heiß, andere ganz kalt. Zwischendurch fiel gelegentlich der Strom aus. Die meisten hatten zu wenig Reiseproviant dabei und es gab nichts zu trinken außer dem, was man vor der Abfahrt in
Krefeld mitgenommen und wohl bald ausgetrunken hatte.

Die Fahrt ging über Wuppertal, Hagen, Schwerte, Hamm, dann weiter über Hannover nach Berlin, von dort über das preußische Königsberg durch Litauen hindurch in die lettische Hauptstadt Riga. Bei den verschiedenen, zum Teil sehr langen Halts an verschiedenen Bahnhöfen versuchten einzelne, Post aufzugeben oder an Wasser heranzukommen. In Hannover-Linden ließ man einem Teil der Juden etwas Wasser verabfolgen. Der in diesem kalten Bürokratendeutsch über diese Fahrt berichtet, ist der Anführer des begleitenden Polizeikommandos, der Hauptmann Fritz Salitter. Sein Bericht hat ihn in der wissenschaftlichen Literatur zu zweifelhafter Berühmtheit verholfen, denn dadurch sind über diese Fahrt bestimmte Umstände bekannt, die man von anderen Deportationszügen nicht kennt.
Kurz vor der Grenze nach Litauen ließ Salitter die Juden letztmalig aus einem in der Nähe liegenden Brunnen Wasser fassen. Er und seine Begleitmannschaft waren indessen vom Roten Kreuz ausreichend und gut verpflegt worden:
Es wurde Graupensuppe mit Rindfleisch verabfolgt.
Wie mögen die Kinder diese Fahrt erlebt haben?
Salitter war sich bewusst, dass er hier keinen gewöhnlichen Sonderzug begleitete oder eine Umsiedlung bewachte. Er wusste, dass man in Riga bereits Tausende von Juden umgebracht hatte, er wusste, dass die sogenannte Umsiedlung nichts anderes sein sollte als die Ausrottung dieser Parasiten, wie er sich in seinem Bericht ausdrückte, in diesem Fall nicht bürokratisch verschleiert.
Je weiter der Zug nach Osten kam, umso kälter wurde es. Als er am 13. Dezember um 23:35 Uhr am Bahnhof Skirotava, etwa 8 km südöstlich von Riga, ankam, war es bitterkalt - minus 12°C und es schneite. 61 Stunden Fahrt lagen hinter den Menschen. Zunächst aber mussten alle den Rest der Nacht in den nun ungeheizten Wagen zubringen. Am Morgen gegen 9 Uhr hörten sie Hundegebell SS-Männer rissen die Türen auf und trieben die Menschen in Reihen zusammen. Dann mussten sie sich auf den langen Fußmarsch ins Ghetto machen.
Das Ghetto befand sich in der sogenannten Moskauer Vorstadt, einer ehemaligen Armensiedlung mit armseligen, alten Holzhäusern. Hier waren noch wenige Tage zuvor lettische Juden untergebracht gewesen. Die letzten wurden am 8. Dezember 1941 unter Einsatz brutaler Gewalt im Ghetto zusammengetrieben, in den Wald von Rumbula gebracht und dort erschossen. Am 10. Dezember, an dem Tag, als sich die Familie Albersheim/Eichenwald in Krefeld auf den Weg machte, kam in Riga der erste Zug mit Deportierten aus dem Rheinland an. Er war am 7. Dezember in Köln abgefahren. Die Straßen im Ghetto waren nach der Mordaktion an den lettischen Juden noch nicht gesäubert worden. Steifgefrorene Leichen waren zu sehen, Blut überall, in den Häusern war alles durchwühlt, Mobiliar zerstört, auf manchen Tischen stand noch das Essen - eingefroren.

Kempen

Am späten Abend des 10. Dezember 1941 werden die Menschen von der Kempener Polizei in die städtische Badeanstalt gebracht. Hier "durften" die Juden der ersten Deportation die Nacht auf den Fliesen des Foyers verbringen. Dort werden sie auf Vollzähligkeit überprüft und instruiert. Am Morgen des 11. Dezember zieht die kleine Gruppe, von Ortspolizei eskortiert, vom Hohenzollernbad zum Bahnhof und wird in einen Güterwagen der Krefelder Industriebahn verladen.
Nach der Ankunft werden die Juden in den Häusern des Ghettos von Riga zusammengepfercht- durchschnittlich mit 16 - 18 Leuten in einem Raum. Die Männer werden kurz darauf in einen Wald in der Nähe getrieben, um dort beim Bau eines KZs zu helfen. Die Arbeit im eiskalten Winter ist mörderisch, die Verpflegung erbärmlich. Als Folge der Entbehrungen erkranken viele, darunter Rudolf Bruch aus Kempen, Vorster Str. 2. Der 42jährige hat sich von den Strapazen der Haft in Dachau nach der Kristallnacht nie erholt; er ist früh gealtert. Er stirbt an Typhus. Zwar gehen Krankentransporte ab - zur Erholung im Ghetto, wie es offiziell heißt - aber die Kranken werden unterwegs im Wald erschossen. An einem dieser Transporte soll am 6. Januar 1942 auch Rudolf Bruchs Kempener Nachbar, der 50jährige Andreas Mendel, teilnehmen. Aber er ist schon so entkräftet, dass er auf dem Weg von der Baracke zum Omnibus taumelt und stürzt. Einer der lettischen Polizisten, die das Lager bewachen, schießt ihn an Ort und Stelle nieder.
Die Lebensbedingungen im Ghetto von Riga sind ein wenig erträglicher als die im Lager Salaspils. Familien und Bekannte dürfen hier zusammenbleiben. Aber immer wieder kommt es zu Erschießungen. Bei einer Vernichtungsaktion am 26. März 1942 lädt man an die 1.800 Menschen auf Lastautos und bringt sie zur Erschießung in den Wald von Bikernikie, darunter auch den alten Isidor Lambertz aus St. Hubert. Fünf Tage nach dem Tod ihres Mannes wird Isidor Lambertz' Frau Wilhelmine (Minna) Mendel im Laderaum eines Lastwagens vergast.
Ein Jahr nach der Deportation stirbt der Viehhändler Andreas Rath, der zu Hause die dickste Freundschaft mit allen Bauern der Umgebung hatte, an Unterernährung. Nicht jeder der Älteren hat einen Beistand wie die Frau des in Salaspils erschossenen Andreas Mendel, Paula geb. Weinberg. Ihr Sohn, Kurt Mendel, kümmert sich aufopfernd um die Mutter. Andere wieder wachsen in der schlimmen Umgebung über sich hinaus - wie die Kempenerin Bertha Servos, Tochter von Sally Servos, Josefstr. 5, zum Zeitpunkt der Deportation 45 Jahre alt, die in Kempen „den Eindruck machte, als ob sie nicht bis drei zählen könne“.
Hier im Ghetto ist sie wie verwandelt, verdient sich ihren Unterhalt durch Nähen und versteht es auf tausenderlei Weise, an Lebensmittel zu kommen. Aber im August 1944 wird sie nach Auflösung des Ghettos Riga ins KZ Strazdenhof gebracht - das liegt nordöstlich von Riga im Vorort Jugla - und dort mit allen, die älter als 30 Jahre sind, erschossen.
Bisher haben die jüdischen Eltern das Ghetto Riga morgens in Marschkolonnen verlassen, haben sich zu einer Arbeitsstätte außerhalb begeben und sind abends wieder zu ihren Kindern zurückgekehrt. Nun sollen sie außerhalb des Ghettos im Zusammenhang mit einer Produktionsstätte fest kaserniert werden, d. h., sie würden von ihren Kindern getrennt. Diesem Schicksal versuchen die jüdischen Familien mit Kindern jetzt verständlicher Weise zu entgehen. Daraufhin beschließt die Sicherheitspolizei, die jüdischen Kinder zu vernichten - und der Zweckmäßigkeit halber auch die arbeitsunfähigen Kranken. Am 2. November 1943 werden 2.216 Menschen in Waggons zu je 70 Insassen verladen und nach Auschwitz geschickt. Diese Kinderaktion bringt der neunjährigen Ilse Bruch aus Kempen den Tod - aber auch ihrer Mutter Selma Bruch, die aus freien Stücken mit ihrem Kind in die Gaskammer geht. Selma Bruch hat zwar gute Überlebenschancen: Ihre Geschicklichkeit im Nähen hat ihr einen wichtigen Posten im so genannten Gewerbebetrieb eingebracht - so lautet der Sammelbegriff für die verschiedenen Werkstätten in- und außerhalb des Ghettos, wo auch die Textilien der Toten sortiert und ausgebessert werden. Bei ihrer Arbeit stockt Selma Bruch manchmal der Atem, wenn sie die Kleider auswerten muss, die die Teilnehmer an Todestransporten vor ihrer Erschießung ablegen mussten: Schuhe von Kleinkindern sind darunter, Stofftiere und liebevoll gestrickte Kinderwestchen. Einmal erkennt sie das goldene Hochzeitsband, das sie für einen Kempener Nachbarn genäht hat. Für Selma Bruch ist diese Arbeit eine Art Lebensversicherung. Aber noch wichtiger ist ihr, für ihre Tochter da zu sein, sie zu beschützen - vor allem jetzt, wo der Vater nicht mehr da ist.
Als die Arbeitsgruppen, die außerhalb eingesetzt sind, am Abend des 2. November 1943 in das Ghetto zurückkehren wollen, finden sie dessen Zugänge verschlossen. Schließlich lassen die Wachen die schreiende Selma doch durch. Drinnen findet sie Menschen vor, die sich zum Abtransport in Reihen aufgestellt haben. Dann sieht sie ihre Tochter, die dort alleine und verängstigt steht, und stellt sich zu ihr.
Ihre Liebe ist stärker als die Furcht vor dem Tod. Selma Bruch will nicht, dass Ilse allein ist, wenn sie stirbt. So folgt sie ihrem Kind in die sichere Vernichtung. Eine einfache Frau, die mit ihrer Tapferkeit den Rassenwahnsinn der Nazis beschämt und es verdiente, dass man in Kempen eine Straße nach ihr benennt.
Quelle: Dr. Hans Kaiser

Osterath

09.12.1941
37 Osterather und Lanker Juden wurden am 9. Dezember im Halbdunkel mit einem LKW abgeholt. Am 11. Dezember wurden sie in Düsseldorf Derendorf am Schlachthof in einen Güterzug verladen. Am 13. Dezember kamen sie auf dem Bahnhof Skirotawa in der Nähe von Riga an. Es gab nur 3 Personen, welche die Quälerei überlebten und zurückkehrten.

Täter

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