Erschießung eines Häftlings, der Matthes mit einem Messer verletzt hatte, und weiterer mindestens 80 Personen aus Anlass dieses Attentats
Dem Angeklagten Matthes wird zur Last gelegt, einen Häftling, der ihn bei einem Appell mit einem Messer verletzt hatte, an Ort und Stelle erschossen und anschließend als Vergeltung 80 andere Häftlinge ausgesucht und ihre Erschießung an den Leichengruben angeordnet zu haben.
Matthes gibt hierzu folgendes an:
Ende September / Anfang Oktober 1942 sei er beim Durchzählen der beim Appell versammelten Juden des Totenlagers von mehreren Häftlingen grundlos geschlagen und von einem der Häftlinge sogar grundlos mit einem Messer verletzt worden. Er habe sich daraufhin zwei Tage lang in seiner Unterkunft im unteren Lager aufhalten müssen und sei erst am dritten Tag wieder zum Dienst im oberen Lager erschienen. Er habe keine Vergeltungsmassnahmen angeordnet. Selbst dem Messerstecher sei nichts geschehen, da er, Matthes, mit allen Juden Mitleid gehabt habe. Es sei ihm auch nichts davon bekannt, dass sein Vertreter Ptzinger oder andere SS-Männer des oberen Lagers an den Juden dieserhalb Rache genommen hätten.
Dieser Einlassung vermag das Schwurgericht nur insoweit zu folgen, als Matthes angibt, er sei von mehreren Häftlingen geschlagen und von einem anderen Häftling mit einem Messer verletzt worden. Das dies grundlos geschehen sein soll, kann man sich allerdings nicht vorstellen, denn die Häftlinge werden sich nur dann zu Tätlichkeiten gegenüber dem Chef des oberen Lagers, dem Herrn über Leben und Tod in diesem Lagerteil, haben hinreißen lassen, wenn sie durch besondere Schikanen aufs äußerste gereizt waren. Nur dann riskiert man sein Leben durch den Angriff auf einen Mann, der einem im nächsten Augenblick den Tod bereiten kann. Es ist auch durchaus wahrscheinlich, dass Matthes den Attentäter, der ihn mit dem Messer verletzt hatte, an Ort und Stelle schwer bestrafte oder sogar tötete. Matthes war ja nur leicht verletzt und konnte derartige Vergeltungsmassnahmen noch selbst anordnen. Wenn Matthes solche Maßnahmen nicht mehr selbst durchgeführt haben sollte, dann spricht vieles dafür, dass sein Vertreter Pitzinger und andere SS-Männer Rache an dem Attentäter und möglicherweise auch zur Abschreckung an unbeteiligten Häftlingen übten. Indessen lässt sich das nur vermuten, sichere Feststellungen vermag das Schwurgericht in diesem Punkt nicht zu treffen.
Der zu diesem Fragenkomplex uneidlich vernommene, 55 Jahre alte Eisenbahner Gol. aus Petach Tikwa in Israel hat zwar angegeben, Matthes und Münzberger hätten nach dem Attentat 70 Männer herausgesucht, sie zu einer Leichengrube geführt und dort erschossen. An der Zuverlässigkeit dieser Zeugenaussage bestehen freilich erhebliche Zweifel. Zwar ist das Schwurgericht davon überzeugt, dass der Zeuge Gol. in Treblinka Furchtbares mitgemacht hat und dass seine Angaben zum allgemeinen Lagergeschehen objektiv richtig sind. Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass der Zeuge den Angeklagten Matthes sogleich wiedererkannt hat.
Andererseits kann nicht außer acht gelassen werden, dass der Zeuge bei seiner Vernehmung, die ihn mit seinen früheren Peinigern konfrontierte, sehr erregt und unbeherrscht war, wodurch die objektive Richtigkeit seiner Aussage gelitten haben könnte. Das gilt umso mehr, als der Zeuge offensichtlich zu Übertreibungen neigt.
So hat er angegeben, dass Münzberger und ein als Böser bezeichneter deutscher SS-Mann mehrfach toten schwangeren Frauen die Kinder aus dem Leib herausgeschnitten hätten, um sich davon zu überzeugen, dass auch die Ungeborenen tot seien. Das ist ein Vorfall, den kein anderer Zeuge auch nur andeutungsweise bekundet hat. Im Ermittlungsverfahren hat Gol. angegeben, der Angeklagte Lambert habe zwei jüdische Ingenieure durch Vierteilung getötet. In der Hauptverhandlung hat er gesagt, dass er seine früheren Angaben dahin berichtige, dass die beiden Ingenieure nicht gevierteilt, sondern auf Anordnung von Lambert durch Ukrainer erschossen worden seien. Bereits diese beiden Punkte lassen Zweifel an seinem Erinnerungsvermögen und damit an der objektiven Richtigkeit seiner Aussage, soweit sie Einzeltaten betrifft, aufkommen.
Seine Bekundung reicht deshalb nicht aus, um Matthes der Tötung von 70 oder 80 beziehungsweise 81 Häftlingen anlässlich eines auf Matthes verübten Attentats zu überführen, obwohl insoweit nach wie vor ein erheblicher Tatverdacht auf dem Angeklagten Matthes lastet.