Sein Aufgabengebiet im Vernichtungslager Treblinka

In Treblinka war der Angeklagte Stadie, der wegen seiner geringen Größe und seines damals großen Leibesumfanges bei den Häftlingen die Spitznamen Füssele, Dickwanst und Bulldog hatte, als Stabsscharführer und sogenannter Spieß der Verwaltungsleiter des Lagers für das deutsche und das ukrainische Wachpersonal.

Er musste mit Hilfe eines Schreibers alle auf der Schreibstube anfallenden schriftlichen Arbeiten erledigen. Außerdem hatte er für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit im Lagerbereich zu sorgen und vor allen Dingen den gesamten Lagerbetrieb zu überwachen. Ihm oblag die Einteilung der deutschen Unterführer und der Ukrainer für den Wachdienst und die im Lager anfallenden Arbeiten.

Besonders wichtige Aufgaben hatte Stadie bei der Ankunft eines Transportes. Sobald er oder der Schreiber auf der Schreibstube die telefonische Vorausmeldung über das bevorstehende Eintreffen eines Zuges mit deportierten Juden entgegengenommen hatten, hatte er die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um das sofortige Entladen der Güterwagen und die planmäßige Durchführung der Vernichtung zu gewährleisten. Er alarmierte mit seiner Trillerpfeife das deutsche und ukrainische Lagerpersonal. Alle verfügbaren Männer des unteren Lagers eilten daraufhin zusammen mit dem Angeklagten Stadie zum Bahnsteig. Mit einer Pistole oder mit einer Maschinenpistole bewaffnet nahm er in vielen Fällen selbst die Transporte ab, dh. übernahm die volle Verantwortung für die übergabe des jeweiligen Sonderzuges durch das Zugpersonal an die Lagerverwaltung in Treblinka, und ihm oblag dann weiter die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass mit den Ankömmlingen im Sinne der Lubliner Richtlinien für die Aktion Reinhard verfahren wurde. Er überwachte das Entladen und suchte aus den Angekommenen Arbeitsjuden heraus, falls Bedarf an Arbeitskräften vorhanden war. Er hielt zu Beginn der Massentötungen mehrfach an die auf dem Bahnhofsvorplatz versammelten Menschen eine Ansprache, in der er den Zuhörern bewusst der Wahrheit zuwider erklärte, Treblinka sei nur eine Zwischenstation auf ihrem Wege zu den neuen Arbeitsplätzen. Hier würden sie gebadet, neue Kleider erhalten und dann unverzüglich weitergeleitet werden. Diese Ansprache hielt er deshalb, damit die angekommenen Opfer ruhig bleiben und den fortlaufenden Gang der Dinge nicht stören sollten, denn so ließ sich die Abfertigung am besten und schnellsten erledigen. Die alten und kranken Juden ließ er zur Erschießung ins Lazarett bringen und spiegelte ihnen der Wahrheit zuwider vor, dass sie dort ärztliche Hilfe erhalten würden.
Dabei ließ es der Angeklagte Stadie aber nicht bewenden. Wenn der reibungslose Verlauf einer Abfertigungsaktion gestört zu werden drohte oder wenn er es sonst für nötig hielt, machte er auch von seiner Peitsche Gebrauch und schlug mit ihr auf Frauen, Kinder und Männer ein. In vereinzelten Fällen, in denen es beim Entladen eines Zuges Widerstand und Unruhe gab, machte er auch von seiner Schusswaffe Gebrauch. Wenn Schüsse über die Köpfe der Ankömmlinge wirkungslos blieben, schoss er auch in die Menschenmenge. Ob er hierbei auch Menschen getötet hat, lässt sich indessen nicht feststellen.
Während sich Stadie bei den Transportabfertigungen mehrfach zu Gewalttätigkeiten verleiten ließ, wenn das zur Erreichung eines schnellen Ablaufs der Entladung erforderlich erschien, führte er sich im täglichen Lagerbetrieb gegenüber den Häftlingen verhältnismäßig milde auf. Insbesondere ist kein Fall bekannt geworden, demzufolge er während eines Appells einen Häftling auf dem Prügelbock auspeitschte. Dagegen kam es gelegentlich vor, dass er Häftlinge während der Arbeit schlug, weil sie seiner Ansicht nach nicht fleißig genug arbeiteten.
In den Jahren 1942 und 1943 lag bei Stadie, der jetzt an einer Zerebralsklerose leidet, keine Verminderung seiner Zurechnungsfähigkeit vor. Es gab bei ihm keine krankhafte Reduzierung des Kritik- und Urteilsvermögens und auch keine geistige Erkrankung. Es sind auch keine Anzeichen dafür vorhanden, dass Stadie in den Jahren 1942 und 1943 an einer akuten Alkoholvergiftung litt oder aus irgendwelchen Gründen in seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit in rechtlich erheblicher Weise beeinträchtigt war.