Wenn Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, zur Arbeit geht,
verabschiedet ihn seine Frau, die ihn liebt,
ihre Haare sind blond, ihre Augen leuchten blau,
sie reicht ihm ihre Hand und lächelt stolz.
Wenn ich zur Arbeit in die Schule gehe,
verabschiedet sich niemand, der mich liebt!
Am Frühstückstisch hocke ich allein, starre an die Wand!
Niemand nimmt mich bei der Hand und lächelt stolz.
Der Kommandant von Auschwitz verdient das Sechsfache meines Gehaltes.
Seine Uniform ist schick, die Knöpfe glänzen, alles elegant…
Ein Fahrer chauffiert ihn durch das schwarze Tor, denn „Arbeit macht frei“.
In seinem Büro stehen Ledermöbel und ein massiver Schreibtisch.
Mit meinem Gehalt komme ich so gerade über die Runden,
neue Kleidung kaufe ich nur, wenn unbedingt nötig.
Zur Schule chauffiert mich keiner, aber „Wissen ist Macht“.
Statt eines Büros steht mir in der Schule ein Schrank von einem Kubikmeter zu.
Wenn Höß Platz genommen hat, legt er ein Pausenbrot auf den Tisch.
Er findet eine Liste vor, die besondere Vorkommnisse der Nacht aufführt.
Jetzt kann der Kommandant befehlen, es wird alles geschehen.
Auf dem Tisch steht das Bild seiner Familie, die Frau lächelt, die Kinder auch.
Ich habe keinen Platz, um ihn zu nehmen, ein Pausenbrot auch nicht.
In der ersten Stunde unterrichte ich Philosophie, das Thema: Ethik.
Statt zu befehlen muss ich überzeugen, argumentieren, zuhören.
Ein Foto meiner Familie besitze ich nicht, ein Bild meiner Tochter nur im Herzen.
Höß zündet sich während der Arbeit ein Zigarette an,
um Punkt zehn packt er sein Butterbrot aus,
kurz danach klingelt das Telefon, seine Frau möchte seine Stimme hören.
Während sie ihm liebe Worte ins Ohr flüstert, schaut er auf die Buchen an der Lagerstraße.
Zum Rauchen muss ich in den Keller, in mein Ghetto.
Ein Butterbrot habe ich nicht, sehne mich aber danach.
Wer sollte mich anrufen, wenn mich noch nicht einmal jemand liebt?
Während meiner Pause schaue ich auf ein abgedunkeltes Kellerfenster.
Zum Mittagessen fährt Höß nach Hause, seine Frau erwartet ihn.
Ein Tisch ist gedeckt, ein Kaffee aufgegossen, ein Lächeln bereitet.
An der Tür seiner Villa küssen ihn zuerst die Frau, dann die Kinder.
Beim Mittagessen spricht man nur wenig, denn die Kinder sollen ja Anstand lernen.
Mittags, nach der Schule, fahre ich auch dahin, wo ich wohne.
Niemand öffnet mir die Tür, das Geschirr vom Frühstück noch auf dem Tisch, kein Kaffee.
Während ich ein Butterbrot seelenlos kaue, träume ich von Sauerbraten,
ich spräche gerne mit jemandem, ihre Haare blond, ihre Augen blau…
Rudolf Höß kommt zu seiner Arbeit zurück, er telefoniert mit Krematorium II.
Ein Untergebener muss ihm erklären, warum da alle so langsam seien.
Nur 5.000 am Tag, das sei Minusrekord, ja Schlamperei.
Am anderen Ende hört man nur: „Jawohl!“ und „Jawoll!“
Nach dem Mittagessen korrigiere ich Deutscharbeiten,
Thema: „Warum es schwierig ist, ein Deutscher zu sein.“
Ab und zu rege ich mich auf: die Rechtschreibung!
Um 19 Uhr habe ich mein Pensum erledigt. Zufrieden bin ich nicht.
Beruflich tötet Höß Männer, Frauen und Kinder.
Gegen 19 Uhr hat er sein Tagwerk vollbracht, dann hat er meist
zehntausend Menschen selektieren, sich entkleiden, vergasen
und ihre Leichname verbrennen lassen. Er ist allgemein zufrieden.
Wenn er auf die Lagerstraße in die Abendsonne tritt,
begegnen ihm marschierende Kinder in gestreifter Sträflingskleidung,
sie reißen ihre Mützen vom Kopf, angsterfüllt gesenkt sind ihre Blicke unter einem kahlgeschorenen Kopf.
Sie zittern. Höß sieht sie nicht an. Er kann ihren Hass nicht ertragen.
Wenn ich mittags aus der Schule gehe, sagen mir viele Kinder „Tschö!“
und kleine Hände winken,
lächeln dazu freundlich, dabei stehen sie aufrecht und schauen mich offen an.
Ich grüße lächelnd zurück und kann meine Freude über ihre Zuneigung kaum ertragen.
Darum, Rudolf Höß, beneide mich! Denn mein Leben hat trotz allem einen Sinn!