Aktenzahl des Gerichts (Geschäftszahl): LG Wien 20 Vr 1077/57

Prozess wegen Funktion im NS-Regime (Gendarmerie/Polizei/Gestapo/SD), Zusammenhang mit Schupo-Prozess

Opfer
Juden/Jüdinnen, Häftlinge

Tatland (Tatort)
Niederösterreich, Ukraine

Strafverfahren gegen
Josef Gabriel

wegen
Misshandlung von Häftlingen als Gestapobeamter im Sommer 1939 in Wiener Neustadt (Niederösterreich); in seiner Funktion als Angehöriger der Gestapo und des SD: Ermordung von mehreren hundert jüdischen Männern und Frauen auf dem Gelände des Schlachthofes in Boryslav und von ca. 50 jüdischen Kindern in Sambor (heutige Ukraine) 1942/43; Anordnung der Liquidierung und Veranlassung des Abtransportes zur Liquidierungsstätte von ca. 200 jüdischen Frauen und Männern im Herbst 1942 in Stryj (heutige Ukraine) zusammen mit dem Kriminalrat und SS-Sturmbannführer Hans Block; Anordnung, Leitung und Überwachung der Erschießungsaktion von mehreren hundert jüdischen Männern und Frauen Anfang 1943 in Boryslav (heutige Ukraine)

Verlauf der Vorerhebungen/Voruntersuchung bzw. des Gerichtsverfahrens
Am 18.03.1959 wurde Gabriel zu lebenslangem Kerker verurteilt, aber bereits am 19.12.1968 bedingt entlassen.

08.01.1959: Bezügl. der Mordfakten Drohobycz, Stryj, Sambor u. Drohobycz über die Anklage hinaus wurde das Verfahren gemäß § 109 StPO [Erklärung der Staatsanwaltschaft: kein Grund zur weiteren gerichtlichen Verfolgung] eingestellt. Einstellung des Verfahrens bezügl. §§ 152, 155f, 190ff StG. Einstellung des Verfahrens gegen Gabriel wg. Mitwirkung an der Auflösung des Lagers Klinker-Zement und in den weiteren, im einzelnen nicht mehr festzustellenden seiner nur nach § 137 StG zu beurteilenden Mitwirkung an Aushebungs- und Verschickungsaktionen gemäß § 34/2 StPO [Auslieferung]. Die gegen Gabriel wegen 125 StG erstattete Anzeige wurde gemäß § 90 StPO zurückgelegt.

weitere Gerichtsvefahren im Zusammenhang mit den verbrechen deutscher Schutzpolizeieinheiten in Boryslav
LG Wien 20a Vr 3333/56

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Bericht des KZ Überlebenden Karl Flanner
Es waren vier SS-Männer, die ihm damals in der Gestapo-Villa zusetzten. Nach stundenlangem Prügelverhör legten die Schergen eine Gulaschpause ein, und Flanner durfte sich waschen. Danach ging es mit dem Verhör weiter. Nach der ersten Nacht habe er sich im Spiegel nicht mehr wiedererkannt, erzählt er.
Drei seiner Peiniger stammten aus der Umgebung von Wiener Neustadt und hatten vor 1939 als Staatspolizisten für das Schuschnigg-Regime gedient. Nach dem Krieg machte ihnen die Republik den Prozess. Flanner kam zu jeder Verhandlung. Der Richter habe einen der Schergen gefragt, ob er jemals Gefangene geschlagen habe, erzählt er. Kann schon sein, dass ich wem eine Tachtel gegeben habe, wenn er frech war, habe seine Antwort gelautet. »Ich musste mich so zurückhalten in dem Moment«, erinnert sich Flanner. Wäre ich aufgesprungen, hätte man mich aus dem Saal geworfen. Das Urteil gegen den SS-Mann: zwei Jahre Haft. Wenige Monate später war er wieder frei: Weihnachtsamnestie des Bundespräsidenten.
Der Gefährlichste von den vieren hieß Gabriel, der hat ständig meine Hoden gequetscht. Nach seiner Haftstrafe von wenigen Monaten wohnte der Mann noch jahrzehntelang in Neudörfl, einem Ort nahe Wiener Neustadt. Ich hatte ihn aus den Augen verloren. Ein befreundeter Wirt erzählte Flanner in den Achtzigern, jener Gabriel würde am Stammtisch große Reden schwingen: Den Flanner, den kriegen wir schon noch. Der ehemalige Widerstandskämpfer schüttelt den Kopf. Einmal habe er Gabriel danach noch getroffen, an einer Bushaltestelle in Wiener Neustadt. Ich dachte, ich muss ihm zumindest einen Kinnhaken geben. Kurz denkt er nach. Aber wenn der eine Schramme gehabt hätte, wäre ich vermutlich für ein Jahr ins Gefängnis gegangen. Ein Kinnhaken würde ihm inzwischen schwerfallen. Er ist langsam geworden. Mehr als 50 Schritte zu Fuß sind für ihn anstrengend. Ein Herzklappenfehler hat ihm schon zwei Infarkte beschert.

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Boryslav
Am 01. Juli 1941 wurde Boryslav von den Deutschen besetzt. Ukrainer, Polen und deutsche Soldaten töteten alleine am ersten Tag der Besatzung über 300 Juden. Zwischen August und Oktober desselben Jahres wurden Juden aus dem Ort zur Zwangsarbeit zur Reparatur von Straßen und Brücken angehalten. Es heisst, Hunderte von ihnen wurden von den Deutschen und der ukrainischen Polizei gezwungen, in den Fluss zu springen. Der Fluss war voll von Leichen. Ende November begannen die Deutschen und Ukrainer, die Juden in einen nahgelegenen Wald umzubringen. Im August 1942 sammelten deutsche Soldaten und die ukrainische Polizei insgesamt 5000 Juden und schickten sie ins Todeslager Belzec. Im Oktober 1942 wurden 1500 Juden aus Boryslav nach Belzec geschickt. Einige Monate später wurden 2000 weitere aus dem Ghetto nach Belzec geschickt oder einfach vor Ort erschossen. Aus Belzec gab es nach dem Krieg nur zwei Überlebende einer von ihnen wurde in Polen erschossen, als er es wagte, gegen die Schuldigen vor Gericht auszusagen.

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Der Manager Berthold Beitz in Boryslav
1941 wird Berthold Beitz kaufmännischer Geschäftsführer der Carparthian Oil in Boryslav. Im gleichen Jahr biginnen die Deutschen in Boryslav mit der systematische Tötung von Juden. Nachdem er 1942 im Schlachthof von Boryslaw Augenzeuge eines Massenmordes von Deutschen an Juden geworden war, rettete er hunderte von Juden und Polen das Leben, indem er sie als Arbeitskräfte anforderte.
Später wird er sagen: "Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich mußte einfach etwas zu tun. Berthold Beitz rettete Hunderte von Juden, indem er erklärte sie unentbehrlich für die Öl-Produktion für das Deutsche Reich.
Er hat oft eingegriffen, auch wenn die Situation aussichtslos erschien, dank seiner Firma und seinem Auftreten gelang es ihm immer wieder SS-Offiziere einzuschüchtern. Jahre später, wurde er gefragt, ob er keine Angst gehabt habe, Beitz sagt: Hätte ich Angst gehabt, wäre es mir nie gelungen."
An Bertholds Seite war Else. Seine Frau, seine Vertraute, und sein halt. Oft in der Nacht, kammen jüdische Kinder, klopften an ihre Tür, Schutz suchend. Else nimmt sie auf, verbirgt die Opfer; wohl bewusst des Risikos für sich und ihre Familie. Else ist zu der Zeit gerade erst 20 Jahre alt.
Beitz wird nach 1945 zu einem der mächtigsten Manager im Nachkriegs-Deutschland.
Beitz spricht ungern über sein Leben und Wirken in Boryslav, aber er hat nie vergessen, was er sah. Daher weiß er über die moralische Verpflichtung für diejenigen, die Sklavenarbeit und Konzentrationslager überlebt haben. Er schafft es, Alfried Krupp zu überzeugen, Entschädigung an Zwangsarbeiter zu zahlen - und macht Krupp zu einem der ersten deutschen Unternehmen die Verantwortung übernehmen und damit entsprechend handeln.
1973 wird Berthold Beitz von Yad Vashem geehrt. Else Beitz wird 2006 als "Gerechter unter den Völkern" anerkannt. Berthold und Else haben sich oft gefragt, "hätten wir mehr tun können."

Massaker am Schlachthof Boryslav (Erinerungen von Berthold Beitz)
Die Erschießung fand in aller Öffentlichkeit statt: Deutsche Soldaten und Zivilangestellte, Polizisten und SS-Leute, Ukrainer und Polen, sogar einige durch ihr „R“-Abzeichen leidlich geschützte Juden sahen dem Schauspiel untätig und hilflos zu.
Die Opfer mußten sich vollständig ausziehen. Anschließend führten die Mörder sie in Fünfergruppen auf eine über das Massengrab gelegte Planke und schossen ihnen ins Genick, woraufhin sie in die Grube fielen. Als das Morden beendet war, wurde das Grab zugeschaufelt. Die Erde über dem Massengrab am Schlachthof bewegte sich noch lange.
Was er sah, war für Beitz ein Schock. Er fühlte sich, so seine Erinnerung, bis aufs letzte nervlich angespannt; ihn beherrschte eine eigenartige „doppelte Empfindung“: hilfloses Mitgefühl mit den getöteten Juden und eine unbändige Lust, einen der deutschen Täter sofort umzubringen. Als Beitz vom Schlachthof in sein Büro zurückkehrte, war er aschfahl und raufte sich die Haare aus dem Kopf. Seine damalige Sekretärin erinnert sich, wie Beitz immer wieder sagte: „Wenn der Krieg vorbei ist und die Welt von all diesem erfährt, wer soll dann dafür bezahlen?“
Nun wurde ihm endgültig klar, daß die SS letztlich nicht nur die jüdische Arbeitskraft rücksichtslos ausbeuten wollte, sondern den systematischen Massenmord betrieb, demgegenüber wirtschaftlicheArgumente zweitrangig waren.
Dabei hatten zunächst viele äußere Gründe für die Annahme gesprochen, daß sich die SS von wirtschaftlichen Motiven leiten ließ, nicht zuletzt Beitzens spektakuläre Rettungserfolge vom Frühjahr und Sommer 1942. In dieser Zeit hatte Beitz auf Bitten seiner jüdischen Mitarbeiter am Bahnhof von Boryslaw rund 300 Juden aus den Zügen herausgeholt, die für den Abtransport ins Vernichtungslager Belzec bereitstanden.
Die SS hatte damals die Lüge verbreitet, die Juden würden in andere Arbeitslager verlegt, und viele Juden klammerten sich an diese Hoffnung, obwohl mittlerweile Gerüchte über Vernichtungslager durchgesickert waren. Auch die SS verriet sich zeitweise – so etwa, als sie in Gegenwart von Beitz leichthin davon sprach, die von ihnen in die Waggons gepferchten jüdischen Ärzte würden auch im Himmel gebraucht.

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Bericht von Jozeph Lipmann aus Borysław
Geboren wurde ich 1931 als Kind des Bauingenieurs und Sägewerkbesitzers Abraham Lipman und seiner Frau Etka, geb. Gottlieb, in Boryslaw, Galizien. Deutschland und Russland waren gierig auf Boryslaw als dem Zentrum der polnischen Erdölindustrie.
Die Russen, die 1939 unser Gebiet besetzt hatten, traf der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 21.06.1941 wie ein Blitz! Kurz nach dem Einmarsch erlaubten die deutschen Behörden ukrainischen Nationalisten das erste Judenpogrom als Rache für ein Massaker des abziehenden russischen Geheimdienstes NKWD an 45 Gefangenen. Es wurden etwa 240 jüdische Männer und Frauen erschlagen und erschossen.
Noch im Juli 1941 haben die Deutschen selbst zwei „Aktionen“ durchgeführt. Dabei kamen etwa 1.500 Kinder, Frauen und Alte ums Leben. Sie wurden am Stadt¬rand neben dem Schlachthof erschossen.
Aus zwei armen Stadtteilen wurde ein „Judenviertel“ geschaffen, ohne Kanal, Strom und Gas. Noch durfte man aus dem Judenviertel heraus, doch viele Geschäfte waren für Juden verboten. An einem Morgen gegen 5 Uhr hörten wir Schreie, Weinen und Kommandos: los, schnell, dalli-dalli, verfluchter Jude! Für alle Fälle flohen wir in das Versteck, das Vater sofort nach dem Einzug in dem Judenviertel gebaut hatte. Diese 4. Aktion dauerte eine ganze Woche. Wir waren die ganze Zeit in dem Versteck, ohne Essen und Trinken. Am schlimmsten war der Durst. Ich habe ein Taschentuch gekaut, später habe ich es gelutscht. Nach etwa sieben Tagen herrschte absolute Stille.
Auf der Straße sah man einen Schlagbaum mit einem Wachhaus. Es war ein Ghetto entstanden. Wir wohnten in zwei Zimmerchen mit Küche, zusammen mit meinem Onkel - einem Zahnarzt -, seiner Frau und dem sechsjährigen Sohn. Im Herbst und Winter, bei Regen und Frost von -15 bis -25 Grad, fehlten Lebensmittel und Brennmaterial fast völlig. Tuberkulose, Fleckfieber und Hungertod gingen um. An Gebäuden, in denen es Typhuskranke gab, hing ein rotes Warnschild mit der Aufschrift „Fleckfieber”. Die Totengräber zogen mehrmals am Tag die Leichenwagen durch unsere Straße.
Häufig gab es Razzien. Die gefassten Juden wurden im ehemaligen Kino Colosseum zusammengetrieben, bis die vorgesehene Zahl zusammen war. Dann wurde die ganze Gruppe in das Vernichtungslager Bełżec oder zur Massener¬schießung in die Branicki-Wälder gebracht.
Als erster aus der Familie wurde ein Onkel ermordet, der im Ersten Weltkrieg beim deutschen Militär gedient hatte. Sein „Eisernes Kreuz“ warfen sie auf den Boden: durch die Juden hätten sie den Ersten Weltkrieg verloren. Er starb in der Nähe des Schlachthofs. Danach kamen Tante Eścia mit ihren beiden Töchtern ums Leben, dann meine Oma Rebeka und Tante Lusia mit ihrem Sohn Tusiek. So wurde die ganze enge Familie meiner Mutter, die Familie der Gottliebs, ausgelöscht. Auch in der Familie meines Vaters wurden viele in den zahlreichen Aktionen ermordet.
Direkt nach dem Einmarsch der Deutschen musste Vater in dem Sägewerk arbeiten, das ihm vor dem Krieg gehört hatte. Direktor des Sägewerks wurde ein Herr Felsmann, aber in der Praxis hat mein Vater als Schnittplatzmeister die ganze Produktion geleitet. Der Direktor ließ dem Vater viel freien Raum. Vater hat viele Juden beschäftigt, auch mich, und so musste ich nachts nicht ins Ghetto zurückkehren, wo ständig Jagd auf Kinder, Frauen, Kranke und Alte gemacht wurde. Vater hat sich beim Direktor dafür mit teuren Gemälden bedankt. Ich habe in der Tischlerei auf einem Lager aus Sägespänen und Sägemehl in einer großen Kiste geschlafen. Nach einem Jahr wurde Felsmann zum Militär eingezogen. weil er zu viele Juden beschäftigt hätte.
Der nächste Direktor des Sägewerks war ein Bayer, der einen Teil der jüdischen Arbeiter an die Gestapo übergab und dabei ein ruhiges Gewissen hatte. Nach ihm wurde ein armamputierter Hauptmann Direktor. Ich habe das Sägewerk für alle Fälle verlassen. Wenn jemand an unsere Tür im Ghetto klopfte, versteckten Mutter und ich uns sofort. Schließlich schlug Vaters Schwager, ein Zahnarzt, vor, dass wir uns bei ihm im Keller verstecken. Das war ein recht sicherer Ort, da dort ständig deutsche Patienten waren. Gegen morgen begann eine neue Aktion. 13 Personen versteckten sich in dem kleinen, fensterlosen und dunklen Keller. Bei der Rückkehr nach Hause nach dieser Aktion trafen wir keine Menschenseele. Ringsherum war nur das Krachen offener Türen und Fenster und das Splittern der Glasscheiben zu hören.
Die Männer, die wie mein Vater als „Rüstungsarbeiter“ eingestuft waren, wurden jetzt in einem „Arbeitslager für Juden” kaserniert. Die Menschen im Ghetto waren vogelfrei. Deshalb blieb ich bei Vater im Lager. Mutter fand bei unseren früheren Nachbarn , einer ukrainischen Familie, Unterschlupf
Im Juni 1943 wurde das Ghetto endgültig aufgelöst. Vater brachte mich heim¬lich zu Mutter. Unsere Verstecke waren der Dachboden des Stalls und ein kleiner Rübenkeller im Boden. Der Keller war so flach und klein, dass man auf dem Bauch oder auf dem Rücken hineinkriechen und in dieser Haltung ver¬harren musste, bis morgens um 5 die Bäuerin kam, um die Kühe zu melken. Sie gab uns etwas zu essen, wir konnten Gesicht und Hände waschen und zurück ging es in den kleinen Keller. Im Winter waren wir im Keller, weil es dort wärmer war, und im Sommer auf dem Dachboden. Dort beobachtete ich die Vögel, die auf das Dach geflogen kamen. Ich träumte davon, auch wegfliegen zu können. Nach 7 Monaten wurden unweit unseres Verstecks Juden gefasst. Wir haben dann in einem Heuschober auf dem Feld Schutz gesucht, weil wir dort ohne Wissen unserer Wohltäter selbst Schutz gesucht haben könnten.
Wenn es im Lager relativ ruhig war, nahm Vater mich mit ins Lager. Auf dem Lagergelände war eine Produktion für Schaufeln, deren Leiter mir Arbeit beim Schärfen der Schaufeln gab. Das Lager war in einer ehemaligen Militärkaserne, es waren 400 - 600 Personen untergebracht. Alle Gebäude und Räume sowie die Pferdeställe waren belegt. Wir wohnten in einem riesigen Pferdestall mit ca. 40 Doppelpritschen. Im Lager herrschte eine Wanzen- und Läuseplage.
Im Sommer 1943 belauschte mein Vater ein Gespräch des Sägewerkdirektors mit der Gestapo, dass er ihnen alle Juden übergeben wolle. Vater sagte dem Direktor, dass er wieder im Baugewerbe arbeiten wolle. Der Direktor versetzte meinem Vater einen mächtigen Fußtritt in den Schritt und brüllte, dass er ihn der Polizei übergebe. Vater lief weg und versteckte sich eine Woche lang bei seinem Schwager. Ab August 1943 nahm mein Vater eine Arbeit bei der Karpaten-Erdöl-AG auf, deren kaufmännischer Leiter Berthold Beitz viele Juden gerettet hat.
Anfang 1944 kamen Gestapo und SS häufig ins Lager und immer wieder verschwanden Arbeiter spurlos. Im März 1944 flüchteten wir aus dem Lager. Spät in der Nacht betraten wir das Haus einer ukrainischen Familie, die uns gegen Geld versteckte. Vater ging von Zeit zu Zeit raus - angeblich um Geld zu holen.
Mitte Juli kam unsere Hausherrin am hellichten Tag in den Schuppen gerannt: "Lauft weg, die Deutschen kommen". Fast nackt und geblendet vom Sonnenlicht liefen wir weg. In der Nacht gab uns die Hausbesitzerin einen Sack mit unseren Sachen heraus. Bleiben durften wir nicht. Von unserem Geld hat sie ein Stück Feld und zwei Kühe gekauft und die Hochzeit ihres Sohnes ausgerichtet. Sie hatte sich ihren Wunsch erfüllt und uns nebenbei das Leben gerettet.
Noch in der gleichen Nacht flüchteten wir zu einem tiefen Hohlweg, etwa 3 km von den nächsten Gebäuden entfernt. Nach zwei, drei Wochen hörten wir in der Ferne ein eigenartiges Grollen. Die Front kam näher. Mehrfach sahen wir deutsche Soldaten oberhalb der Schlucht vorbeigehen und hörten Schüsse fallen. Nach zwei Tagen Stille schlichen wir im Dunkeln zurück. Schließlich traute sich Mutter zur Nachbarin. Nach einer guten Weile rief sie laut, die Sowjets wären schon seit zwei Tagen da! Noch am gleichen Abend kehrten wir in unser Haus zurück. Das Erdgeschoss war bereits belegt, nur die erste Etage war frei und völlig leer. Wir waren wieder in unserem Haus und am Leben. Noch konnten wir es nicht glauben. Der Albtraum hatte drei Jahre und zwei Monate gedauert. Als ich in den nächsten Tagen am Haus der Großmutter, an dem des Onkels und der Tante vorbei ging, fühlte ich einen Stich direkt ins Herz. Von 18.000 Juden, die vor dem Krieg in Borysław lebten, hatten etwa 200 Personen überlebt.

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Antisemitismus in Sambor
Die antisemitische Einstellung war in Sambor bereits vor dem zweiten Weltkrieg vorhanden. 1920 wurde eine jüdische Familie in einem Haus in der Nähe der Kaserne ermordet. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich im Jahr 1930 in einem Vorort von Kalinovka. Eine ganze jüdische Familie, einschließlich der Magd, wurden im Schlaf erschossen und schließlich mit einer Axt getötet.

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Zeitzeugin Henriette Kretz
Henriette Kretz wurde am 26. Oktober 1934 in einer jüdischen Familie in der damals polnischen Stadt Stanisławów (heute Iwano-Frankiwsk in der Ukraine) geboren. Seit 1935 lebte die Familie in der Nähe von Opatów im südöstlichen Polen (Góry Świętokrzyskie), wo Henriettes Vater als Arzt tätig war. Ihre Mutter war zwar Anwältin von Beruf, widmete sich aber ganz der Erziehung der Tochter. Bis zu diesem Zeitpunkt war Henriettes Welt in einer liebevollen Familie in Ordnung und ihre Kindheit unbeschwert. Nach dem Überfall auf Polen im Herbst 1939 floh die jüdische Familie vor den heranrückenden Deutschen. Henriette kam mit ihren Eltern zuerst nach Lemberg und bald darauf ins benachbarte Sambor. Ihr Vater wurde Direktor eines Sanatoriums für Tuberkulosekranke. Doch 1941 holten der Krieg und die Deutschen die Familie auch dort ein. Aus ihrer Wohnung wurden sie bald vertrieben und mussten in den jüdischen Stadtbezirk umsiedeln, wo kurze Zeit darauf ein Ghetto eingerichtet wurde. Sie waren ständig verschieden Gefahren ausgesetzt. Mehrmals gelang es Henriettes Vater seine Familie vor dem Schlimmsten zu bewahren und mit Hilfe von ukrainischen Bekannten oder durch Bestechung, die Familie vor der Erschießung zu retten und aus dem Gefängnis zu befreien. Immer wieder mussten sie sich verstecken. Henriettes Eltern wurden vor ihren Augen erschossen. Sie selbst konnte sich in einem Nonnenkloster verstecken und überlebte die Zeit des NS-Terrors. Nach dem Krieg kam sie auf Umwegen nach Antwerpen, studierte Kunstgeschichte und wurde Lehrerin für Französisch in Israel, wo sie insgesamt 13 Jahre lang lebte (1956-1969). 1969 kehrt sie nach Antwerpen zurück. Henriette Kretz ist verheiratet, hat zwei Söhne und drei Enkel. Sie interessiert sich für Politik, Literatur, Pädagogik, Malerei und Musik. Henriette Kretz ist Mitglied des polnischen Vereins „Kinder des Holocaust“, dem Juden angehören, die als Kinder den NS-Terror meist in Verstecken überlebt haben.

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Bericht über die Judenvernichtung in Stryj