Hintergrund

Bevor die SS-Mannschaften vor der heranrückenden Roten Armee aus Auschwitz flüchteten, waren sie bemüht, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. So wurden u. a. auch die Lagerbaracken, in denen Kleidung, Schmuck und andere Habseligkeiten der Ermordeten sortiert und aufbewahrt worden waren, in Brand gesteckt. Sechs der Baracken blieben jedoch stehen. Bei der Befreiung des Lagers fanden die sowjetischen Soldaten noch 7000 kg Frauenhaar in 293 Säcken in einer Baracke. Vor der Verbrennung waren den Vergasungsopfern verbliebener Schmuck, wie z. B. Eheringe, abgenommen und Goldzähne
gezogen worden. Den weiblichen Leichen wurden die Haare geschoren. Die Ermordeten sollten in jeder nur denkbaren Beziehung „verwertet“ werden.
Nach der Befreiung des Lagers wurden erste Untersuchungen durch eine sowjetische Staatskommission durchgeführt. Anschließend wurden auch ausführliche Erhebungen durch die polnische „Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen“ unter Leitung des Richters Dr. Jan Sehn angestellt. Dr. Sehn berichtet darüber:
„Im Verlauf dieser Untersuchungen wurde das ganze Gebiet des riesigen Kombinats von Oswiecim einer genauen Besichtigung unterzogen. Es wurden Spezialkommissionen von Sachverständigen berufen, deren Aufgabe es war, die Trümmer der vor der Evakuation des Lagers zerstörten Krematorien und Gaskammern sowie die Gruben, in denen die Leichen vergaster Opfer verbrannt wurden, zu untersuchen. Auf das genaueste geprüft wurden alle im Hauptlager und seinen Nebenlagern vorgefundenen Dokumente, Pläne und Karten, die zufällig bei der Vernichtung unversehrt geblieben waren oder von den Nazis nicht mehr weggeschafft werden konnten.“ Im Zuge dieser Untersuchungen wurden vier komplette und zwei beschädigte Lüftungsgitter
(Abschlüsse von Ventilationsöffnungen) aus dem Leichenkeller Nr. 1 des Birkenauer Krematoriums II sowie ein Sack mit Haaren vergaster Frauen an das Institut für Gerichtsexpertisen in Krakau zur chemischen Untersuchung auf Giftrückstände geschickt. Dieses chemische Gutachten bewies zweifelsfrei das Vorhandensein von Rückständen des Giftgases Zyklon B sowohl im Belag auf den Lüftungsgittern als auch im Haar und an darin
befindlichen Haarklammern. Der laut Begleitschreiben gleichfalls an das Institut übersandte Mörtel wurde nicht untersucht, da das Institut sich von der Untersuchung des Mörtels keine Aussage erwartete.

Die folgende Übersetzung beruht auf dem polnischen Originaltext des Gutachtens, und dessen Original sich im Staatlichen Museum Auschwitz befindet. Bereits in den ersten, 1946 veröffentlichten polnischen Dokumentationen zu den Verbrechen von Auschwitz wird auf das Gutachten des Instituts für Gerichtsexpertisen Bezug genommen.

04.06.1945

Antrag
Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen
Wojewodschaftsabteilung in Krakau

Krakau, am 4. Juni 1945

An das
Institut für Gerichtsexpertisen
in Krakau

In der Beilage übersenden wir dem Institut Haare, die von Frauenleichen stammen und diesen
nach der Vergasung und vor der Verbrennung in den Krematoriumsöfen von Brzezinka
abgeschnitten wurden, verpackt in einen Papiersack, der gemäß der Aufschrift 25,5 kg Haar
enthält, mit der Bitte, den Inhalt [des Sackes] zu durchsuchen und in einem dem Art. 254
entsprechenden Verfahren sowie im Zusammenhang mit Art. 123, 138 der
Strafprozeßordnung zu untersuchen, um festzustellen, ob und welches Gift (in den Haaren)
enthalten ist.
In derselben Art und für denselben Zweck wird um Untersuchung der Bleche von den
Ventilationsöffnungen der Gaskammer (Leichenkeller Nr. 1 des Krematoriums Nr. II in
Brzezinka) gebeten, die während des Lokalaugenscheins im Krematorium gefunden wurden,
und des Mörtels, der von der Seitenwand dieser Kammer entnommen wurde. Jene
Gegenstände (4 komplette Abschlüsse der Ventilationsöffnungen aus Blech und 2 beschädigte
sowie der Mörtelklumpen) sind dem Institut am 12. 5. 1945 zur Aufbewahrung übergeben
worden.

Kommissionsmitglieder
Rundsiegel des Landesuntersuchungsgerichtes in Krakau

Staatsanwalt
unleserliche Unterschrift
(Edward Pachalski)

Untersuchungsrichter
unleserliche Unterschrift
(Jahn Sehn)

15.12.1945

Gutachten des Instituts für Gerichtsexpertisen in Krakau vom Dezember 1945

Po. Nr. 171/45

Krakau, 15. Dezember 1945

An die
Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen
Wojewodschaftsabteilung
in Krakau

Toxikologisches Gutachten
erstellt im Auftrag der Kommission vom 4. Juni 1945 im Zusammenhang mit den
Ermittlungen bezüglich der Krematorien von Brzezinka (Birkenau).

UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND
Am 12. Mai 1945 sind 4 komplette und 2 beschädigte Abschlüsse von Ventilationsöffnungen
zur Untersuchung eingelangt, welche beim Lokalaugenschein im Krematorium Nr. II in
Brzezinka gefunden wurden und die von den Ventilationsöffnungen der Gaskammer
(Leichenkeller Nr. 1) desselben Krematoriums stammen.
Am 4. Juni ist ein Papiersack zur Untersuchung eingelangt, der laut Aufschrift 25,5 kg Haar
enthielt, das Frauenleichen nach der Vergasung und vor dem Verbrennen in den
Krematoriumsöfen in Brzezinka abgeschnitten wurde.

I. UNTERSUCHUNG DER ABSCHLÜSSE DER VENTILATIONSÖFFNUNGEN
Die Abschlüsse hatten die übliche Form und eine Konstruktion rechteckiger Kästen für die
Ausstattung von Ventilationsöffnungen und waren aus Zinkblech angefertigt. Die
Oberflächen aller Teile waren mit weißem, stark anhaftendem Belag bedeckt.
Das Untersuchungsmaterial wurde vorbereitet, indem an einem Lüfter die Oberfläche bis auf
das blanke Metall abgeschabt wurde, und zwar die ganze Innenseite des Abschlusses und der
der Gaskammer zugewandte Teil des Gitters. Es wurden 7,2 g [Untersuchungsmaterial]
erhalten.
Der Untersuchungsapparat bestand aus einem kleinen Glaskolben mit Scheidetrichter und
Gasabsorptionsgerät mit drei Gasabsorptionsflaschen. In jede der Flaschen wurden ca. 4 ml
10%ige Kaliumhydroxidlösung gefüllt.
Der abgeschabte Belag wurde im Kolben mit Wasser vermischt, und nachdem der Kolben mit
dem Absorptionsgefäß verbunden worden war, wurde mit dem Scheidetrichter konzentrierte
Schwefelsäure zugetropft, sodaß sich gleichmäßig, aber nicht stürmisch Gas entwickelte. Die
Reaktion wurde, unter leichter Erwärmung am Ende, zur vollständigen Auflösung des
Kolbeninhaltes geführt. Die Absorptionsflaschen wurden entleert, ihr Inhalt folgenden
Untersuchungen unterworfen:

a) 4 ml der Flüssigkeit wurden stark abgekühlt und vorsichtig mit verdünnter Schwefelsäure
neutralisiert, mit einigen Tropfen Natriumcarbonat-Natriumhydrogencarbonat-Puffer mit
pH 8.0 alkalisiert, mit einer kleinen Menge Eisen(II)Sulfat versetzt, unter gelegentlichem
Schütteln 30 Minuten stehen gelassen und schließlich vorsichtig mit Schwefelsäure
angesäuert. Es entstand eine helle, grün-blaue Färbung von erzeugtem Preußischblau.

b) 4 ml der Flüssigkeit wurden mit einigen Tropfen Ammonpolysulfid-Lösung versetzt und
5 Minuten am leichten Sieden gehalten. Die abgekühlte Mischung wurde mit einem
Überschuß Cadmiumnitrat ausgefällt und filtriert. Das Filtrat wurde mit Salzsäure
angesäuert und mit Eisen(III)Sulfat-Lösung versetzt: Das Ergebnis war eine deutliche
Orangefärbung von gebildetem Rhodanid.

Beide oben beschriebenen Versuche beweisen, daß das Untersuchungsmaterial Verbindungen
der Blausäure enthielt.

II. UNTERSUCHUNG DES HAARS
Der Sack aus zweilagigem dickem Papier war durch mehrmaliges Umfalten des oberen Teils
verschlossen. Nach dem Öffnen des Sacks wurden stark hineingestopfte Haare in Büscheln
und Zöpfen vorgefunden.

Der Inhalt des Sacks wurde folgenden Untersuchungen unterworfen:

1. Untersuchung des Destillats aus dem Haar
Unmittelbar nach dem Öffnen des Sacks wurden aus dem mittleren Teil seines Inhalts 150 g
Haare in Zöpfen entnommen, schnell zerkleinert, im Destillationskolben mit Wasser bedeckt,
mit Schwefelsäure leicht angesäuert und mit Wasserdampf destilliert. Das Destillat wurde in
einem mit Eis gekühltem Kolben aufgefangen. Dieses Destillat wurde, wie oben unter I a) und
b) beschrieben, untersucht.

Die Preußischblau-Reaktion ergab eine sehr leichte grün-blaue Färbung, die Rhodanprobe
ergab eine leichte gelb-orange Färbung.

2. Die zweite Untersuchung
wurde in ihrem ersten Teil gleich wie unter 1. beschrieben durchgeführt, es wurden jedoch
500 g Zöpfe zur Untersuchung eingesetzt, die auch aus dem mittleren Teil des Sackes
entnommen wurden. Es wurden 200 ml Destillat gesammelt, das bei sofortiger Untersuchung
kaum sichtbare Preußischblau- und Rhodanreaktion zeigte.

Dieses Destillat wurde über eine Vigreux-Kolonne fraktioniert destilliert. 15 ml Destillat
wurden in einem mit Eis gekühltem Glaskolben, der eine kleine Menge stark verdünnter
Natriumhydroxid-Lösung enthielt, gesammelt. Die Analyse des Destillats wurde, wie oben
beschrieben, durchgeführt. Die Preußischblau-Reaktion zeigte eine deutliche Blaufärbung, die
Rhodanprobe eine deutliche Orange-Rot-Färbung.

3. Untersuchung des wässerigen Extraktes des Haars
5 kg Zöpfe und zusammengepreßte Haarbüschel wurden mit ca. 2 bis 2,5 Liter Wasser
versetzt, so daß sie mit der Flüssigkeit bedeckt waren, und bei Raumtemperatur 16 Stunden
extrahiert. Der wässerige Extrakt, der gegen Lackmus neutral reagierte, wurde dekantiert, mit
Schwefelsäure leicht angesäuert und gleich, wie unter 2. beschrieben, untersucht. Die
Preußischblau-Reaktion ergab eine leichte Blaufärbung, die Rhodanprobe eine leicht orange
Färbung.

Es wurde somit nachgewiesen, daß das Haar Blausäure bei Zimmertemperatur in die
wässerige Lösung abgegeben hat.

III. UNTERSUCHUNG DER IM HAAR GEFUNDENEN METALLTEILE

Nach Abschluß der Analysen auf Blausäure wurde der Inhalt des Sackes gründlich geprüft
und die unter den Haaren und in den Zöpfen gefundenen Metallgegenstände herausgenommen
und sortiert. Folgende Gegenstände wurden gefunden:

a) Ein Brillenbügel aus Metall, mit zumindest 14 Karat Gold stark vergoldet,

b) Haarspangen aus Zink

c) Haarspangen und Nadeln aus Messing

Die oben angeführten Gegenstände wurden einer gesonderten Untersuchung unterzogen, da
erfahrungsgemäß wie auch theoretisch begründbar einige Metalle Cyanwasserstoff besonders
fest binden.

1/ Untersuchung der Haarklammern aus Zink
175 g Probematerial wurde wie oben unter I. beschrieben untersucht. Die Preußischblau-
Reaktion ergab eine schwache grün-blaue Färbung, die Rhodanprobe eine schwache orange
Färbung.

2/ Untersuchung der Messinghaarklammern und -nadeln
20,7 g Probematerial wurde wie oben unter I. beschrieben untersucht. Die Preußischblau-
Reaktion ergab deutliche Blaufärbung, die Rhodanreaktion deutliche Orangefärbung.

3/ Untersuchung des Brillenbügels
Der Brillenbügel mit einem Gesamtgewicht von 3,23 g wurde in einem Kolben mit Wasser
bedeckt, mit Schwefelsäure angesäuert, wobei Helianthin als Indikator verwendet wurde.
Danach wurde über eine Vigreux-Kolonne destilliert und das Destillat in mit Eis gekühltem
Wasser gesammelt; es wurden 10 ml Destillat gewonnen. Die Preußischblau-Reaktion,
durchgeführt mit 4 ml Destillat, ergab eine blasse, aber vollkommen deutliche Blaufärbung.
Die Rhodanprobe, gleichfalls mit 4 ml Destillat durchgeführt, ergab eine helle, aber deutliche
Orangefärbung.

Damit wurden die Untersuchungen abgeschlossen.

Alle bei den oben angeführten Versuchen verwendeten Reagenzien und Geräte waren vorher
geprüft worden, um ihre Sauberkeit und Genauigkeit sicherzustellen.

Beurteilung

I) In den Abschlüssen der Ventilationsöffnungen aus Zinkblech, die aus Ventilationsöffnungen
der Gaskammer (Leichenkeller Nr. 1) des Krematoriums II in Brzezinka
stammen, wurde die Anwesenheit von Blausäureverbindungen nachgewiesen.

II) Im Haar, das den Frauenleichen nach der Vergasung abgeschnitten wurde, wurde die
Anwesenheit von Blausäure nachgewiesen.

Metallgegenstände, die unter dem Haar gefunden wurden, wie Spangen, Haarnadeln und ein
vergoldeter Brillenbügel, enthielten noch verhältnismäßig beträchtliche Mengen an
Blausäureverbindungen.

Institutsdirektor
[Dr. Jan Z. Robel]