Edenpalast-Prozess

Strafsache gegen Stief und Genossen
Es ist Samstag, der 22. November 1930, kurz vor Mitternacht. Im Nachrichtentechnischen Amt des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz, der „Roten Burg“ wie das Gebäude im Volksmund heißt, trifft eine Fernmeldung ein:

„Politischer Überfall – 25 N.S.D.A.P. Angehörige – Überfall auf Arbeiterwander-Geselligkeitsverein Falke in Edenpalast – Kaiser Friedrichstraße 24 – 3 Verletzte darunter einer schwer durch Schiesserei im Saal."

Das Stakkato der Meldungen reißt nicht ab. In den kommenden Stunden treffen immer wieder neue Nachrichten am Alexanderplatz ein. Die polizeilichen Ermittlungen werden aufgenommen. Das übliche Vorgehen. Zeugen werden befragt. Die Identität der Verletzten wird festgestellt. Die Art der Verletzungen beschrieben. Durchsuchungen im Umfeld der verdächtigen Personen angeordnet und Beweismaterial sichergestellt. Nach und nach entsteht auf diese Weise ein erstes Bild der Geschehnisse, die sich an diesem Abend nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt im Bezirk Charlottenburg zugetragen haben.

Was war geschehen?
Schauplatz der Ereignisse ist ein überwiegend von Arbeitern bewohntes Viertel in der Nähe des Schlosses Charlottenburg, den Berlinern als der „Kleine Wedding“ bekannt. Hier, in der Hebbelstraße 20, in der Kneipe „Zur Altstadt“, hatte der SA-Sturm 33 im September 1930, am Vorabend der Reichstagswahl, sein „Verkehrslokal“ eingerichtet. Die Gastwirtschaft avancierte, so wird es das Schwurgericht später in seinem Urteil feststellen, schnell zu einem „Anziehungspunkt für nationalsozialistische Kreise schlechthin und für die mit der Bewegung Sympathisierende.“ Die SA hatte das Lokal mit Bedacht ausgewählt, zum einen, „weil es mitten zwischen den kommunistischen Vierteln lag, zum anderen, weil der Wirt Nationalsozialist und opferbereiter Kämpfer war. Es war eine Demonstration des strotzenden Selbstbewusstseins der SA und ihrer Gewaltbereitschaft.
Die ersten Auseinandersetzungen mit antifaschistischen Arbeitern ließen nicht lange auf sich warten. Die SA führte den Kampf um die Straße brutal und rücksichtslos. Es gab Tote. So gelangte das kleine Viertel in den kommenden Monaten immer wieder in die Schlagzeilen. Vom „Mordsturm 33“ und dem „Mörder Eldorado“ in Charlottenburg war nun die Rede.

Am Tatabend verlassen zwei junge Männer das SA-Lokal.
Der 21-jährige Maurer und spätere Angeklagte Max Moritz, Theodor Liebscher und der Speditionslehrling Joachim Moritz Tiburtius. Beide sind Mitglieder des Sturms 33. Mit anderen SA-Männern haben sie den Abend in der Kneipe verbracht. Es wurde getrunken und geraucht. Nun wollen sie, wie sie später vor Gericht aussagen werden, lediglich etwas „frische Luft“ schnappen. Für die Jahreszeit ist es erheblich zu warm. Scheinbar ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, schlendern die beiden durch die angrenzenden Straßen. In der Kaiser-Friedrich Straße, in Höhe der Hausnummer 24, machen sie Halt. Dort befindet sich der Tanzpalast „Eden“, ein allgemein bekannter und beliebter Veranstaltungsort für die proletarischen Vereine des Viertels. An diesem Abend versammeln sich dort im Erdgeschoss die Bäcker und Konditoren. Im ersten Stock feiert der Arbeiterverein „Wanderfalke“ ein Stiftungsfest. Die beiden Männer wissen das und suchen offenbar die Auseinandersetzung. Sie nähern sich einer Gruppe von Gästen, die sich vor dem Edenpalast aufhält. Es kommt zu einem Handgemenge, Liebscher und Tiburtius sind in der Unterzahl und ergreifen die Flucht.
Liebscher eilt zurück in das SA-Lokal in der Hebbelstraße und alarmiert seine Kameraden. Daraufhin setzen sich 15 bis 25 Männer in Bewegung, ausgerüstet mit Schusswaffen, Totschlägern, Stahlruten und Knüppeln. Im Laufschritt eilen Sie zum Edenpalast. Die Männer brüllen: „Heil Hitler, die Straße frei“. Der Angriff gilt dem Arbeiterwanderverein.
Mehrfach wird aus einem Vorraum in den Festsaal gefeuert. Dort halten sich etwa 120 Gäste auf. Die Bilanz des Überfalls: mehrere Verletzte, drei Gäste werden durch Schüsse verletzt, einer davon durch einen Steckschuss in den linken Oberbauch lebensgefährlich.

Ende Februar 1931 erhebt der Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht III Anklage gegen den Hausdiener Konrad Herman Stief, den Kaufmann Albert Franz Wilhelm Berlich, den Mechaniker Rudolf Erich Wesemann und den Maurer Max Moritz Theodor Liebscher, der als einziger nicht vorbestraft ist.

Alle vier Angeklagten wohnen in Charlottenburg im näheren Umfeld des Tatorts, sind Mitglieder der NSDAP und gehören bis auf Berlich der SA an. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Landfriedensbruch vor. Stief, dem angelastet wird, als Rädelsführer der Sturmtruppe die Schüsse abgegeben zu haben, ist zugleich wegen versuchten Totschlags sowie unerlaubten Schusswaffenbesitzes angeklagt, Berlich darüber hinaus wegen gefährlicher Körperverletzung.
Die Anklageschrift hat einen Umfang von 24 Seiten und listet 39 Zeugen auf. Eine akribische Fleißarbeit. Doch im entscheidenden Punkt bleibt sie hinter den Erwartungen der Geschädigten zurück und ruft umgehend heftigen Widerspruch hervor. Noch vor Eröffnung der Hauptverhandlung übermittelt Hans Litten zwei Schriftsätze an das Landgericht und beantragt seine Beiordnung als „Armenanwalt“ für den Hausdiener Norbert Budzinski und die Arbeiter Walter Braun und Willi Köhler.
Die Drei wurden durch die Schüsse verletzt und treten nun als Nebenkläger auf. Littens Begründung der Anträge wirkt wie eine Blaupause seiner Strategie für den kommenden Prozess und gibt zugleich Auskunft über sein Rollenverständnis.

„Strafverteidigung ist Kampf.“ Im Falle Littens muss man diese berühmte Definition von Hans Dahs ergänzen: Angriff ist die beste Verteidigung. Litten betrieb kein Appeasement. Er exponierte sich als harscher Kritiker polizeilicher Willkür und willfähriger Justiz. Nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch auf politischen Versammlungen und in Beiträgen für die linke Presse. In den Anfängen seiner Anwaltstätigkeit, etwa in den Prozessen um den Berliner „Blutmai“ des Jahres 1929, in dessen Verlauf 32 Menschen, zumeist Kommunisten und linke Arbeiter in bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen mit der Polizei zu Tode gekommen waren, richteten sich seine Attacken hauptsächlich gegen die Staatsmacht und ihre sozialdemokratischen Repräsentanten wie den Berliner Polizeipräsidenten Karl Friedrich Zörgiebel und den preussischen Innenminister Albert Grzesinski.
Nun war ein neuer und weitaus gefährlicherer Gegner hinzugekommen: die SA.
Parallel zum Edenpalast-Prozess wurde vor dem Landgericht ein Prozess gegen Mitglieder des Sturms 33 wegen der Tötung des Arbeiters Max Schirmer verhandelt. Die Staatsanwaltschaft hatte in Ihren Schlussanträgen auf Körperverletzung mit Todesfolge plädiert und vergleichsweise milde Gefängnisstrafen gefordert. Litten greift diese Vorgänge in seinem Beiordnungsantrag auf. Sie lieferten ihm den Beweis, dass „die Interessen der Nebenkläger keineswegs ausreichend durch die Staatsanwaltschaft wahrgenommen werden“. Mit unverhohlener Empörung schildert Litten, die milden Anträge des Staatsanwalts hätten „bei den Mitgliedern des Sturms 33 geradezu sensationell gewirkt.“ Es seien ihm Äußerungen berichtet worden, „dass es sich für 2 Jahre Gefängnis lohne, einen Kommunisten abzustechen“.
Ein fatales Signal. Eine schreiende Ungerechtigkeit.
Im Edenpalast-Prozess sollte sich das nicht wiederholen. Dreh- und Angelpunkt war die strafrechtliche Würdigung des Überfalls. Die Staatsanwaltschaft hatte für Litten viel zu kurz gegriffen. Und so argumentierte er nun gegen die Anklage. Um Mittäterschaft gehe es. Die Schüsse seien eben nicht die Tat eines Einzelnen, sondern von allen Angeklagten „als eigene gewollt“. Nicht Landfriedensbruch müsse der Vorwurf lauten, sondern versuchter Mord am politischen Gegner. Nicht spontan sei der Überfall vonstatten gegangen, sondern „nach einem vorgefaßten Plan mit Überlegung“. Kurz gesagt: Nicht Raufhandel sondern Rollkommando.
Wie gesagt: in rechtlicher Hinsicht war dies der neuralgische Punkt des ganzen Verfahrens. Doch gab es für Littens rechtlichen Ansatz hinreichende Beweise? Legt man die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchungen zugrunde, so muss die Antwort lauten: nein. Litten hatte jedoch gute Gründe, der Arbeit der Polizei zu misstrauen.
In vielen Fällen, so lautete sein professionelles Credo, bestehe „die Hauptaufgabe des Verteidigers darin, zugunsten des Angeklagten Ermittlungen anzustellen, die die staatlichen Untersuchungsorgane nicht anstellen konnten oder wollten“. Nach dem Überfall auf den Edenpalast ging Litten mit seinen „privaten Ermittlungen“ sogar noch einen Schritt weiter. Weit über das „kleine Wedding“ hinaus hatte die
Tat hohe Wellen geschlagen.

Im Türkischen Zelt, einem Ausflugslokal in Charlottenburg in der heutigen Otto-Suhr-Allee, fand wenige Tage später eine kommunistische Protestkundgebung mit mehreren hundert Teilnehmern statt. Neben Walter Ulbricht und anderen Rednern trat auch Litten auf. Und Litten funktionierte die Veranstaltung kurzerhand um, verwandelte sie in ein proletarisches Tribunal. Er rief Zeugen des Vorfalls auf die Bühne, befragte sie und inszenierte auf diese Weise eine Art Gegenöffentlichkeit zum öffentlichen Strafverfahren. Die Arbeiterpresse berichtete im Anschluss ausführlich und wertete die Angaben der Zeugen als Beleg für das nazifreundliche Verhalten der Polizei und die Planmäßigkeit des Überfalls. Ein bemerkenswerter Vorgang, der im weiteren Prozess noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Litten hatte also schon sehr früh die Weichen gestellt. Die politischen Motive der Angeklagten wollte er sichtbar machen, Gewalt und Terror der SA in den politischen Kontext stellen und als Teil der Strategie der Nationalsozialisten im Kampf gegen den kommunistischen Gegner darstellen. Man könnte auch sagen, Litten schickte sich an, den Edenpalast-Prozess zu politisieren.

Am 15. April 1931 wurde die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht bei dem Landgericht III eröffnet. Den Vorsitz hatte Landgerichtsdirektor Kurt Ohnesorge, Staatsanwaltschaftrat Paul Stenig vertrat die Anklage. Wie nicht anders zu erwarten, beriefen sich die Angeklagten in ihren Einlassungen auf Notwehr oder stellten die Vorwürfe gänzlich in Abrede. Bereits am zweiten Verhandlungstag kam es zu einer Kontroverse über die Existenz und Einhaltung des Waffenverbots in der NSDAP. Einer der Pflichtverteidiger der Angeklagten, Rechtsanwalt Curt Becker, beantragte daraufhin die Vernehmung des „Herrn Adolf Hitler“ zum Beweis der Tatsache, dass den Mitgliedern der Partei das Tragen von Waffen verboten sei und ein Verstoß gegen dieses Verbot einen Parteiausschluss nach sich ziehe. Die Zeitung „Welt am Abend“ kommentierte, der Herr Verteidiger habe dabei die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn Litten zog nach und beantragte als Vertreter der Nebenkläger nun seinerseits den – so wörtlich – „Parteiangestellten“ Adolf Hitler und den Polizeihauptmann a.D. Walter Stennes als Zeugen zu laden; und zwar zum Beweis des Gegenteils. Nämlich, dass eine ernsthaftes Waffenverbot in der NSDAP nicht bestanden habe und die Partei sog. Rollkommandos wie den „Sturm 33“ dulde. Rollkommandos, die „planmäßig organisierte Überfälle mit dem Ziele der vorsätzlichen überlegten Tötung auf politische Gegner ausführten und dass dies dem Zeugen Hitler seit mindestens 3 Jahren bekannt war“.
Das Gericht gab den Beweisanträgen statt. Am 8. Mai 1931, dem 12. Verhandlungstag,
meldete sich – so vermerkt es das Hauptverhandlungsprotokoll – um 09.00 Uhr in der Früh
der Schriftsteller Adolf Hitler als Zeuge. Für den Zeugen Hitler kam der Auftritt in Moabit zu
einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Die Partei befand sich in ihrer bis dahin „schwersten
Krise“ (Goebbels). Bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930 hatte die NSDAP ihren Stimmenanteil mit einem Schlag von 2,6 auf 18,3 Prozent nahezu verfünffacht. Statt mit 12,
wie zuvor, zog sie nun mit 107 Abgeordneten in den Reichstag ein und stellte nach der SPD die zweitstärkste Fraktion. Die staatstragenden, demokratischen Parteien der Mitte hatten keine Mehrheit mehr und Hitler war endgültig zu einem zentralen Machtfaktor in der deutschen
Politik geworden. Mit den Wahlerfolgen wuchsen jedoch die Spannungen innerhalb der Partei.
Aus dem fehlgeschlagenen Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923 hatte Hitler strategische Konsequenzen gezogen. Er propagierte nun das Bündnis mit dem Staat. Nicht
auf revolutionärem, sondern auf legalem Weg sollte die Partei die Macht erobern. Hitlers mit „Strenge durchgehaltene Legalitätspolitik“ war jedoch nicht unangefochten. Radikalere
Kräfte, unter ihnen auch Goebbels, beriefen sich auf die Anfänge der Bewegung und
betonten den revolutionären Anspruch der Partei. Der Kampf um die Parlamente sollte den Kampf um die Straße nicht ersetzen, wenn es galt, das verhasste System zu destabilisieren
und den politischen Gegner zu demoralisieren. Die SA nahm diesen Kampf bereitwillig auf,
mit spektakulären Aufmärschen, Straßenschlachten und Krawallen. Hitlers Legalitätskurs,
der die offiziellen Verlautbarungen der Partei beherrschte, Administration und Reichswehr in
ihrem Argwohn besänftigen und bürgerliche Wählerschichten ansprechen sollte, geriet so in einen scharfen Kontrast zum gewalttätigen Radikalismus und dem revolutionären Pathos der SA. Im Laufe des 1931 schnellte die Zahl der SA-Mitglieder in die Höhe. Innerhalb der Partei wuchsen das Selbstbewusstsein und der Einfluss der Straßenkämpfer. Mit Verachtung blickten sie auf die „Bonzen“ in München, die Repräsentanten der „Palastpartei“, spotteten über deren Hang zu Luxus und Repräsentation. Hitler selbst galt ihnen als feige, angepasst, „verspießt“
und „bourgeois“. Es kam zur Revolte.

Hitler entschied den Machtkampf letztlich für sich. Anfang April 1931 verhinderte er ein Auseinanderbrechen der Partei, indem er die Galionsfigur des Protests, den SA-Führer für Berlin und Ostdeutschland Walter Stennes, entmachtete und aus der Partei ausschloss. Eben jenen Walter Stennes, der nun auf Littens Veranlassung ebenfalls als Zeuge im Edenpalast-Prozess aussagen sollte. Am 8. Mai hatte sich vor dem Hauptportal des Kriminalgerichts eine große Menschenmenge versammelt, darunter viele Anhänger der NSDAP, die für eine Solidaritätskundgebung herbeikommandiert worden waren. Mehrere Hundertschaften der Schutzpolizei waren eingesetzt, um das Gericht zu sichern. In den Fenstern und auf den Balkonen der Häuser in der Turmstraße drängten sich die Schaulustigen. Sie alle warteten vergeblich. Aus Goebbels Büro in Berlin waren – dies belegen die Handakten der Staatsanwaltschaft – Gerüchte über einen geplanten Anschlag der Kommunisten auf Hitler gestreut worden. Der Zeuge wurde daher ungesehen durch ein Seitenportal in den völlig überfüllten Schwurgerichtssaal geschleust.

Moabits großer Tag, titelte die Presse. Die Erwartungen an Hitlers Auftritt waren
hochgesteckt. Noch frisch war die Erinnerung an den aufsehenerregenden Legalitäts-Eid,
den Hitler im September 1930 im sog. „Ulmer Reichswehrprozess“ vor dem Reichsgericht in Leipzig abgelegt hatte. Nun endlich würde der Terror der SA Hitlers gebetsmühlenartige
Rede von der Legalität als taktisches Lippenkenntnis entlarven; so hofften seine Gegner.
Eine unangenehme Fortsetzung der Stennes-Revolte im Gerichtssaal drohte; so fürchtete
die Spitze der NSDAP.
„Heute kommt der Chef“, schrieb Goebbels am 7. Mai 1931 in sein Tagebuch. „Er muß
morgen Zeuge spielen im Edenpalastprozeß.“ Kein leichtes Spiel, schon gar nicht nach den Ereignissen der letzten Monate. Goebbels ahnte das wohl. „Peinlich“ drohte Hitlers Auftritt
zu werden, „da auch Stennes geladen ist“. Auf den Zeugen wartete also kein Spaziergang,
eher eine Gratwanderung und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er sich tatsächlich in „Seelennot“ befand. Goebbels blieb nur die Rolle des Zuschauers. „Gespannt“ wartete er
auf die Ergebnisse des Tages.
In der Presse wurde das Ereignis gut dokumentiert. Manche Blätter, wie etwa die
renommierte Vossische Zeitung, druckten sogar Wortprotokolle, so dass sich Verlauf und
Inhalt der Vernehmung gut rekonstruieren lassen. Demnach sah es zunächst so aus, als
gäbe es für den Zeugen keinen Grund zur Sorge.
Der Vorsitzende eröffnete die Befragung und referierte die Beweisbehauptungen der Nebenkläger. Hitler, in dunklem Anzug und staatsmännischer Pose, schien sich seiner Sache sicher. Er hatte sich vorbereitet, war am Abend zuvor mit Goebbels und seinem Rechtsberater Hans Frank die Aussage noch einmal durchgegangen. Nun war er gewillt, die Bühne, die sich
ihm bot, zu nutzen. Die ihm gestellten Fragen beantwortete er mit einem Wortschwall, gewandt, im Stil eines geübten Redners und begleitet von theatralischen Gesten. „Granitfest“ – so ein vielfach kolportierter Ausdruck – stünde die Partei auf dem Boden der Legalität, nichts könne sie vom legalen Weg abbringen, gewaltsame Methoden würden nicht geduldet. Ohne Anlass kam Hitler auch auf seinen Widersacher Stennes zu sprechen. Kurz zuvor hatte er im Völkischen Beobachter, dem Parteiorgan der NSDAP, mit Stennes abgerechnet und ihm unter anderem vorgeworfen, er habe in seinem ganzen Leben außer ein paar „Rollkommandos“ nicht viel auf die Beine gestellt. Stennes war erledigt, so lautete die Siegesbotschaft an das Parteivolk. Damit waren auch die Stichworte für den ersten Teil der Vernehmung gefallen.
Was wusste der Zeuge Hitler über die Existenz der Rollkommandos, ließ er die braunen
Schläger wissentlich gewähren, billigte er gar den SA-Terror? Nun war Litten an der Reihe und das Blatt begann sich zu wenden. Beobachter beschrieben seine Art der Befragung als im Ton ruhig und gemessen, in der Sache gab sich der junge Anwalt jedoch hartnäckig, zuweilen sogar penetrant. Und wie immer war Litten hervorragend vorbereitet, hatte schon im Vorfeld das Gericht mit Presseartikeln und Beiträgen Hitlers aus dem Völkischen Beobachter versorgt, sich hinter den Kulissen mit der Verteidigung ausgetauscht und auch im gegnerischen Lager im Umfeld der SA vertrauliche Informationen beschafft. Seine Fragen deckten Widersprüche in den Aussagen des
Zeugen auf. Nunmehr ernsthaft attackiert, rettete sich Hitler vermehrt in Ausflüchte. Als sich dann auch noch einer der Verteidiger als Stennes-Mann und Sympathisant der abtrünnigen
SA-Gruppierung offenbarte, schien dem Zeugen zu dämmern, dass ihm die Situation zu entgleiten drohte. Aufmerksame Beobachter registrierten nun die ersten deutlichen Zeichen innerer Anspannung. Hitler wurde nervös.

Wie gut Litten auch über Parteiinterna der NSDAP im Bilde war, zeigte der zweite Fragenkomplex. Nun rückte der Propagandachef der Partei in den Mittelpunkt, Joseph Goebbels.
Goebbels, seit 1926 Gauleiter in Berlin, stand bei der Münchener Parteiführung in dem – nicht unbegründeten – Verdacht, mit der SA und Stennes zu sympathisieren. Erstmals 1926 hatte er im Parteiverlag eine Broschüre publiziert. Sie trug den Titel „Der Nazi-Sozi“, ein dünnes Heftchen, das der ideologischen Ertüchtigung des Parteifußvolks diente und ein offenes Bekenntnis zu revolutionärer Gewalt war. Wenn die Partei nicht durch Wahlen an die Macht gelangen könne, so hieß es darin, dann „machen wir Revolution! Dann jagen wir das Parlament zum Teufel und begründen den Staat auf die Kraft deutscher Fäuste und deutscher Stirne“.
Musste diese Parole nicht einen außergewöhnlichen Eindruck auf einfache Parteimitglieder machen? Musste ein Mann wie Goebbels in seiner Position nicht den Eindruck erwecken, dass die Parteiführung selbst es mit dem Programm der Legalität nicht wirklich ernst nahm? Die Reporter der Vossischen Zeitung notierte, dass Hitler, von diesen Fragen sichtlich überrascht, nun zu stottern anfing. Goebbels erschien wie der Kronzeuge gegen Hitlers Legalitätskurs. Sollte Hitler sich, um den Schein der Legalität zu wahren, von ihm distanzieren, seine radikalen Parolen in aller Öffentlichkeit missbilligen? Die Vernehmung dauerte schon fast dreieinhalb Stunden.
Immer wieder unterbrochen durch taktische Geplänkel und ständiges Hick-Hack über die Zulassung einzelner Fragen an den Zeugen. Hitler hatte – wie damals üblich – die ganze Zeit vor dem Richtertisch gestanden. Nun zeigten sich erste Ermüdungserscheinungen. Verzweifelt schien er nach einer Antwort zu suchen, die den Schein wahrte und zugleich den Propagandachef nicht zu sehr ins Abseits stellte. Schließlich fand er einen Ausweg, argumentierte formalistisch. Die Schrift trage nicht das Parteiemblem, sei nicht parteioffiziös
und mithin ohne Wert für die Partei. Eine Privatmeinung sei Goebbels Broschüre, man dürfe sie daher zur Beurteilung der Bewegung nicht heranziehen. Diese Antwort ließ Litten aufhorchen.
Das Gericht unterbrach die Verhandlung für die Mittagspause.
Auf dem Gerichtsflur führte Litten Gespräche. Er forschte nach. Sein Informant war offensichtlich einer der Verteidiger, der Stennes-Mann Curt Becker. Am Nachmittag wurde Hitler dann erneut in den Zeugenstand gerufen. Litten knüpfte an seine Befragung vom Vormittag an. Ob es zutreffe, fragte er den Zeugen, dass das Goebbelsche Pamphlet weiter von der Partei publiziert werde, dass 120.000 Exemplare im Druck seien. Hitlers Beistand beanstandete die
Frage und Litten präzisierte. Er habe gerade erfahren, dass Goebbels Bekenntnis zur Illegalität von der Partei sanktioniert sei, dass die Schrift auf dessen Veranstaltungen verkauft werde und in allen Buchläden der Partei erhältlich sei, ganz im Gegensatz zu Hitlers Verlautbarungen über Legalität. Hier nun fühlte sich der Vorsitzende auf den Plan gerufen: „Herr Hitler, sie haben tatsächlich in der Vormittagsverhandlung ausgesagt, dass Goebbels Schrift nicht parteioffiziös
sei.“ Und auf einmal stand der Vorwurf der Falschaussage im Raum. Die Vernehmung hatte einen Punkt erreicht, an dem weder Ausflüchte noch rhetorische Tricks weiterhalfen. Hitler hatte endgültig die Kontrolle über die Situation verloren und nun verlor er auch die Fassung. Goebbels Schrift, ein Aufruf zur Illegalität? Er wandte sich Litten zu, sah ihn direkt an und – so wird berichtet – brüllte mit hochrotem Kopf: „Wie kommen Sie dazu, Herr Rechtsanwalt,
zu sagen, das ist eine Aufforderung zur Illegalität. Dass ist eine durch nichts zu beweisende Behauptung.“
Man muss sich die Szene im überfüllten Moabiter Schwurgerichtssaal vorstellen. Hitler hatte die Vernehmung am Morgen souverän, in der Pose des seriösen Staatsmannes begonnen. Und nun schrie der Führer der NSDAP herum, führte sich auf wie eine „hysterische Köchin“ (Litten). Doch
Litten zeigte sich unbeeindruckt. Er ließ nicht locker. Kühl, professionell setzte er an, dem Zeugen den entscheidenden Schlag zu versetzen. Wie es denn sein könne, bohrte er nach, dass der Parteiverlag eine Schrift übernehme, die im klaren Gegensatz zur Parteirichtung stehe. In diesem Moment war es der Vorsitzende, der Hitler zur Seite sprang und gleichsam rettete. Er ersparte Hitler die Antwort. Diese Frage habe mit dem Prozess nichts zu tun. Littens sofortiger Widerspruch wurde weggewischt. Die Vernehmung war beendet. Um 18.09 Uhr, so vermerkt es das Protokoll, wurde der Zeuge im allseitigen Einverständnis entlassen. Das Presseecho war immens und ein Beleg dafür, dass der Edenpalast-Prozess nicht nur im Gerichtssaal stattfand. Die politischen Lager konkurrierten um die Deutungshoheit. Für viele Beobachter war Hitler entzaubert. Die linke Presse goss Hohn und Spott über ihn aus, witzelte über die anbiedernden
Legalitätsbekenntnisse und seinen Geltungsdrang: „Klein-Adolf“ auf dem Weg in die Wilhelmstraße. Das nationalsozialistische Kampfblatt „Angriff“ dagegen pries den standhaften Führer und schoss sich nun auf Litten ein, diffamierte ihn als „kleinen, dicklichen Halbjuden“ mit „ungeschorenem Haar“ und rief dazu auf, ihm das Handwerk zu legen.
Worte, die wie Waffen wirkten. Die publizistischen Mordaufrufe wurden immer unverhohlener. Als exponierter Gegner der Nationalsozialisten war sich Litten seines Lebens nun nicht mehr sicher. Er beantragte einen Waffenschein und erhielt Personenschutz durch die Rote Hilfe.
In vielen Erinnerungen wurde die Vereidigung Hitlers als Sieg Littens über den Führer der NSDAP überliefert. Das gehört allerdings ins Reich der Legenden. Denn Litten hatte beantragt, den Zeugen Hitler „unbeeidigt“ zu lassen und sich somit gegen den Vereidigungsantrag des Staatsanwalts ausgesprochen.

Sein Beweggrund?
Vermutlich hatte Litten eine Lehre aus Hitlers Auftritt vor dem Leipziger Reichsgericht gezogen. Es wäre ein Gebot politischer Klugheit gewesen, Hitler nicht erneut das Forum für einen propagandawirksamen Legalitätseid zu bieten.
Aus dem Kreis der Prozessbeobachter war es Rudolf Olden, renommierter Strafverteidiger und politischer Redakteur des Berliner Tageblatts, der die wohl hellsichtigste Analyse dieses historischen Tages geliefert hat. „Hitler schwört und schwört auf seine Legalität. Aber er findet nur wenig Glauben. Will er eigentlich Glauben finden? Wahrscheinlich bei den einen, aber bei den anderen nicht. Denn sicherlich liegt der Hauptreiz seiner Partei darin, dass die nationalsozialistischen Massen ihm nicht glauben. Sie vertrauen vielmehr den revolutionären Phrasen, mit denen sie jahrelang gefüttert worden sind. Gestern in Moabit hatten zwei Revolutionäre den früheren Revolutionär in die Zange genommen Das jubelnde Volk war nach Hause gegangen. Hatte Hitler schon zu viel geschworen? Nein, so schnell begreifen die Leute nicht. “Im Hotel Kaiserhof, am Wilhelmplatz gegenüber der Reichskanzlei im damaligen Berliner Regierungsviertel saßen am Abend Hitler und seine Gefolgsleute zusammen. Man zog Bilanz. Ein „aufregender Tag“ schrieb Goebbels in sein Tagebuch. Auch für ihn. Zur Untätigkeit verdammt, hatte er „den ganzen Tag mit klopfendem Herzen auf den Ausgang der Zeugenschaft Hitlers gewartet“. Die erwartete „Stennes-Revolte“ im Gerichtssaal war ausgeblieben. „Es hat geklappt“, notierte Goebbels. Stennes hatte „einen Eid auf die Legalität abgelegt. Damit hat er sich selbst enthauptet.“ Stennes war also erneut als Verlierer vom Platz gegangen. Dennoch wollte sich so recht keine Erleichterung breit machen. Kein Zweifel: Goebbels hatte den Parteichef mit seinem Verbalradikalismus in Erklärungsnöte gebracht. Denn es blieb dieser so heikle, „verfängliche Satz“ in seinem Pamphlet und die „Bruchstelle“ in Hitlers Aussage. Und der Umstand, dass Hitler in Erklärungsnöte geraten war, hätte auch für Goebbels unangenehme Folgen haben können, war er doch aufgrund seiner nicht unangefochtenen Stellung in den innerparteilichen Machtkämpfen in existentieller Weise vom Wohlwollen des Parteichefs abhängig. Aber an diesem Abend hatte Goebbels das Glück auf seiner Seite. „Da fällt mir ein, dass dieser Satz in der zweiten gereinigten Ausgabe gestrichen ist. Das gibt einen Jubel. Hitler tanzt förmlich vor Freude. Damit sind wir gerechtfertigt.“ Hitler und Goebbels beschließen, dem Gericht einen „gesalzenen Brief“ zu schreiben.
Dieser Brief, verfasst auf dem Kopfbogen des Reichstagsabgeordneten Dr. Goebbels, geht bereits am kommenden Tag auf der Geschäftsstelle des Landgerichts ein und wird danach auch in der Nazi-Presse veröffentlicht. Beigefügt ist die zweite, um den „verfänglichen Satz“ bereinigte Ausgabe der Broschüre. Ein triumphierender Propagandachef empfiehlt sie dem Gericht als Beleg seiner Linientreue. Und als Beweis dafür, dass sich der „jüdische Rechtsanwalt Litten“ mit seinen unverantwortlichen Behauptungen eine offenbare Täuschung des Gerichts habe zuschulden kommen lassen.
Im Hotel Kaiserhof war man nun doch rundum zufrieden und auch Goebbels gab sich versöhnlich. Sein Tagebucheintrag endet mit dem Satz: „Der Tag, der so düster begann, ist hell und gut ausgeklungen, Schwein muss der Mensch haben.“ Mit der Vernehmung des prominenten Zeugen hatte der Edenpalast-Prozess seinen Höhepunkt überschritten. Am 11. Mai begann der Reigen der Plädoyers. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft forderte Zuchthausstrafen zwischen zwei und fünfeinhalb Jahren. Litten beantragte für alle Angeklagten sechs Jahre Zuchthaus, die Verteidiger plädierten auf Freispruch. Am 19. Mai schließlich, nach 16 Hauptverhandlungstagen, verkündete Landgerichtsdirektor Ohnesorge das Urteil.

Der Angeklagte Wesemann wurde freigesprochen, die übrigen Angeklagten wurden wegen schweren Landfriedenbruchs in Tateinheit mit schwerem Hausfriedensbruch jeweils zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Damit blieb das Gericht weit hinter den Anträgen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage zurück. Ein mildes Urteil. Zumindest auf den ersten Blick. Die Presse kommentierte verbittert den nachsichtigen Umgang mit den SA-Gewalttätern und sofort stand der sprichwörtliche Vorwurf im Raum, wieder einmal sei Justitia auf dem rechten Auge blind. Auch in der (rechts-) historischen Forschung ist diese besondere Sehschwäche der Weimarer Justiz, die republikfeindliche, konservative bis reaktionäre Haltung ihrer Repräsentanten immer wieder und auch zu Recht diagnostiziert und beklagt worden. Doch taugt der Edenpalast-Prozess hier als Beispiel? Ich meine, man kann diese Frage nicht einfach mit ja oder nein beantworten. Denn wie immer wenn man etwas länger und genauer hinschaut, werden die Dinge komplizierter, verwischen die klaren Konturen,
werden Schattierungen sichtbar. Liest man die recht ausführlichen Urteilsgründe, dann wird deutlich, dass zumindest der Freispruch für den Angeklagten Wesemann – ein wenig salopp formuliert – auf Littens Konto ging. Das Gericht hielt die Aussagen sämtlicher Belastungszeugen, die Litten vor dem Prozess im Türkischen Zelt öffentlich vernommen hatte, für unverwertbar. Litten selbst hatte in der Hauptverhandlung als Zeuge über diese
„kommunistische Protestveranstaltung“ aussagen müssen und seine eigenen Ermittlungen als legitimes Mittel der Aufklärung verteidigt. Das Gericht dagegen witterte die Gefahr politisch motivierter Suggestion und Beeinflussung und erhob „vom Standpunkt der Wahrheitsfindung schwerste Bedenken“.
Was Litten geradezu für seine „Standespflicht“ hielt, stellte sich – auch aus heutiger Sicht – in Wahrheit als prozessrechtlich hochproblematisch dar.

Mit seinem mutigen Auftritt im Edenpalast-Prozess hat Hans Litten Geschichte geschrieben. Auch Hitler hat jenen 8. Mai 1931 nicht vergessen. Es war eine persönliche Feindschaft, die Littens Lebensschicksal besiegelte. Am 27. Februar 1933 brennt der Reichstag. Schon in den frühen Morgenstunden des kommenden Tages wird Litten verhaftet. Es beginnt ein fünfjähriger Leidensweg durch Gefängnisse und Konzentrationslager. Sonnenburg, Esterwegen, Lichtenburg, Buchenwald und zuletzt Dachau. Am Ende hat er keine Kraft mehr, am Ende ist die Seelennot zu groß. In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1938 erhängt sich Hans Litten. Er wurde 34 Jahre alt.

Quelle:
Dr. Christoph Mauntel, Berlin
(Vorsitzender Richter am Landgericht Berlin)