1933-1945 Opfer
Dr. Carlebach Joseph Zwi
Geb.Datum: 30.01.1883
Geb.Ort: Lübeck
Geb.Land: Deutschland
Schule/Ausbildung: März 1905 Abschluß Oberlehrer-Examen in den Naturwissenschaften (mit summa cum laude)
Beruf: deutscher Rabbiner, Naturwissenschaftler und Schriftsteller
Familienstand: verheiratet
Eltern: Carlebach Salomon * 1845 +1919, Carlebach Esther (geb. Sussmann Adler) *1853 +1920
Geschwister:
Ehepartner: 01.01.1919 Carlebach Charlotte (geb. Preuss) * 1900 Berlin
Kinder:
Carlebach Noemi
Carlebach Ruth
Carlebach Sara
Carlebach Schlomo
Heineman Eva-Sulamith (geb. Carlebach)
Heyman Judith (geb. Carlebach)
Verwandtschaftsverhältnis:
Adresse:Hamburg
Emigration:
Deportation: Am 06.12.1941 verließ ein Deportationszug um 0:11 Uhr den Hannoverschen Bahnhof in Hamburg
Lager: Riga (KZ Jungfernhof)
Sterbeort: im Wald von Rumbula bei Riga ermordet
Todestag: 26.03.1942
Haftgrund: Jude
Bemerkungen:
Die Zahl der Deportierten die mit dem Transport am 06,12,1941 verschleppt wurden, schwankt zwischen 753 und 964 Personen. Der Transport traf am 09.12.1941 an der Bahnstation Skirotava an. Der eintreffende Transport wurde auf Befehl des SS-Brigadeführers und Befehlshabers der Einsatzgruppe A Walter Stahlecker auf dem leerstehenden Gutshof Jungfernhof an der Düna untergebracht. (nach nicht bestätigter Aussage von Überlebenden).
Seine Herkunft
Dr. Joseph Carlebach war der letzte gesetzestreue Oberrabbiner in Deutschland bis zu seinem vor geahnten und doch jähen Ende im Holocaust. Er wirkte in Groß-Hamburg im letzten Drittel, in der Blüte seines zu kurzen Lebens. Seine Lebensgeschichte zeichnete sich durch ungewöhnliche Dimensionen der Vielseitigkeit, Intensität und Dynamik aus - auf religiösem, intellektuellem, wissenschaftlichem und literarisch-schöpferischem Gebiet getragen durch eine frühzeitig formulierte, ideal humane Lebenseinstellung, die er bis zu seinem Tode und mit seinem Tode verwirklichte.
Die Chronik der Familie Carlebach läßt sich bis ins 17. Jahrhundert ins badische Gebiet in Süddeutschland zurückverfolgen, die engere Familiengeschichte begann jedoch im nördlichen Lübeck. Von dort aus verbreiteten sich die Carlebachs, schon damals hauptsächlich als Rabbinerfamilie bekannt, über die verschiedenen Städte Deutschlands und, erzwungen durch den Zweiten Weltkrieg, auch über andere Länder und Erdteile.
Joseph Carlebachs Mutter, Esther (1853-1920), war die in Lübeck geborene Tochter des dortigen Rabbiners Alexander Sussmann Adler (1816-1869). Sein Vater, Rabbiner Dr. Salomon Carlebach (1845-1919), war in Heidelsheim gebürtig. Er gehörte einem neuen Rabbiner Geschlecht an, das eine Synthese aus traditioneller jüdischer Gelehrsamkeit und wesentlichen Teilen der von der europäischen Aufklärung geprägten deutschen Kultur anstrebte. So erwarb er, neben dem streng religiösen Rabbinats Diplom, seine Doktorwürde in deutscher Literatur.
1870 trat er, noch nicht fünfundzwanzigjährig, sein Lübecker Rabbinatsamt an und waltete in diesem jüdisch-deutschen doppelten Sinne fast fünfzig Jahre lang seines Amtes. Als er, schon nahe der Siebzig, den Ausbruch des ersten Weltkrieges erleben mußte, hoffte er patriotischer Weise, daß diejenigen seiner Söhne, die zum Militär eingezogen waren, mit zum deutschen Sieg und zur Verbreitung der deutschen Kultur in der Welt beitragen würden.
Unter den zwölf Geschwistern, den vier Töchtern und acht Söhnen dieser Rabbinerfamilie, war Joseph Carlebach das achte Kind, geboren am 30. Januar 1883. Alle Söhne absolvierten das humanistische Katharineum ihrer Heimatstadt und wurden auch von dem Rabbiner-Vater und einem extra dafür angestellten Lehrer, Rebbe Mordechai Gumpel (1833-1912), in der schwierigen talmudischen Ausbildung unterwiesen.
Studium
Im Gegensatz zu seinen Brüdern, die dann später ihre Rabbinats Ausbildung mit humanistisch orientierten Promotionen verbanden, wandte sich Joseph Carlebach der Mathematik und den Naturwissenschaften zu, obgleich er ursprünglich mehr zum Medizinstudium neigte. Er studierte an der Berliner Universität Physik bei Max Planck (1858-1947) und Astronomie bei Wilhelm Förster (1832-1921); aber schon bald darauf belegte er auch Fächer wie Philosophie und Kunstgeschichte bei den großen Lehrern Wilhelm Dilthey (1833-1911), Erich Schmidt (1853-1913) und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848-1931).
Die Großstadt Berlin ermöglichte ihm nicht nur ausgedehnte Museumsbesuche und anschließende Kunststudien, sondern auch, wenngleich zu dieser Zeit mehr sporadisch, eine Erweiterung seiner jüdischen Bildung in dem dortigen orthodoxen Rabbinerseminar, im Jahre 1873 von Rabbiner Dr. Esriel Hildesheimer (1820-1899) gegründet und nach ihm benannt.
Im März 1905, nach Abschluß seines Oberlehrer-Examens in den Naturwissenschaften (mit summa cum laude), bewarb sich der junge Joseph Carlebach für einen Posten am Jerusalemer Lehrerseminar (Lemel Schule), das 1904 von dem deutsch-jüdischen Hilfsverein im damaligen Palästina errichtet wurde. Das Lehrangebot im Lande Israel nahm er erst nach ausdrücklicher Genehmigung seines Rabbinervaters an.
Der damals 22jährige Naturwissenschaftler war überwältigt von der abwechslungsreichen Naturschönheit des Landes der Väter sowie von dessen durch die neueren archäologischen Ausgrabungen geradezu lebendig werdender geschichtsträchtiger Atmosphäre. Dies verstärkte seine Naturkenntnis und Begeisterung einerseits; andererseits erfüllte ihn dieses Erlebnis mit tiefer religiöser Demut vor Gott und der von Ihm geschaffenen Welt, die er gemeinsam mit seinen Schülern durchwanderte und die er ihnen erläuterte. Dabei blieb Joseph Carlebach durchaus nicht verborgen, wie sehr Krankheit und bittere Armut das Leben im Lande bestimmten und wie auch viele seiner orientalischen Schüler, die angehenden Lehrerkandidaten, unter diesen Zuständen litten. Er sprach ihnen seine Bewunderung über ihre Willenskraft und ihren zähen Lernwillen aus. Er lehrte sie Talmud und deutsche klassische Literatur, vor allen Dingen aber war er ein Pionier im Mathematikunterricht, den er in dem eben neu auflebenden Hebräisch lehrte und für den er gemeinsam mit seinen Schülern nach modernen hebräischen Ausdrücken rang.
Im Lande Israel begegnete er erstmalig intensiv gelebtem Judentum aus anderen Welten, aus orientalischen und osteuropäischen Kreisen, von denen die letzteren seiner jüdisch-deutschen Kultur-Synthese skeptisch und sogar abweisend gegenüberstanden. Sie sahen darin einen verhängnisvollen Kompromiss und eine verheerende Assimilationsgefahr für das Judentum. Es war dann vielleicht seine Carlebachsche Rabbinerabstammung, vor allem aber sein außergewöhnlicher erzieherischer Erfolg, die ihm Tür und Tor zu den führenden religiösen Persönlichkeiten des Landes öffneten: Zu dem würdigen, damals schon fast 90jährigen Rabbiner Samuel Salant (1816-1909); zu dem eindrucksvollen Oberhaupt der sefardischen Juden in Palästina, Rabbi Jakob Schaul Eliaschar (1817-1906) und dem späteren ersten aschkenasischen Oberrabbiner des Landes Israel, Rabbi Abraham Isaak Hakohen Kook (1865-1935), dessen überragende Bedeutung er damals schon erkannte.
Die palästinensischen Erfahrungen wirkten auf ihn sehr nachhaltig; er interessierte sich für die historischen und sozialen Einflüsse, die ein so vielfältiges Antlitz des Judentums erzeugten, und im Grunde bejahte er diese Vielfalt, lehnte aber gleichwohl den mitunter damit einhergehenden Separatismus bzw. Fanatismus ab.
Aufgrund eines Einberufungsbefehls zum deutschen Militär wurde sein zweieinhalbjähriges Palästina-Erlebnis im Herbst 1907 unterbrochen. Danach widmete sich Joseph Carlebach hauptsächlich der Fortsetzung seiner akademischen Studien in Berlin und Heidelberg; gleichzeitig nahm er zwei Lehrerstellen an: im Berliner Margarethen-Lyzeum und als Religionslehrer in der frommen jüdischen Berliner Gemeinde. Und während er in dem Mädchen-Lyzeum nicht nur als Mathematiklehrer, sondern auch als ein origineller Erneuerer der Kunsterziehung anerkannt wurde, bestanden seine Neuerungen in der Religionsschule u.a. in ausgedehnten Ausflügen. Bei solchen Gelegenheiten pflegte Joseph Carlebach die biblische Schöpfungsgeschichte mit modernen Evolutionstheorien zu kontrastieren, als eine Art Herausforderung an die Religionsschüler, um sie dann unter seiner Leitung einen harmonischen Ausgleich zwischen diesen beiden, nach seiner Meinung nur scheinbar konkurrierenden Weltbildern erleben zu lassen.
Im Jahre 1909 promovierte er dann mit dem Thema Lewi ben Gerson als Mathematiker. Jener hochgebildete mittelalterliche Talmudgelehrte (1288-1344) war nicht nur der Mathematik und der Astronomie kundig, sondern gilt auch als der Entdecker der CAMERA OBSCURA (Dunkelkammer) und des JACOBSTABES (Stab zur Feststellung der Seerichtungen); er war Philosoph und Bibelkommentator, ein schöpferischer und gleichzeitig gottergebener Geist. Die Veröffentlichung der Forschungsarbeit über diesen auch Gersonides genannten Gelehrten (Berlin 1910) sowie eine Pionierarbeit über Einsteins Relativitätstheorie (Berlin 1912) brachten Joseph Carlebach auch akademische Anerkennung.
Nach Abschluß seiner Dissertation widmete sich Joseph Carlebach ganz dem Rabbinatsstudium am Berliner Rabbinerseminar. Wenngleich streng orthodox, waren die dortigen Dozenten akademisch ausgebildet, und unter ihnen befanden sich der Sprachwissenschaftler der Berliner Universität Dr. Jakob Barth (1851-1914); der Textkritiker Professor Abraham Berliner (1833-1915) und der Rabbiner und Leiter des Seminars Professor Dr. David Hoffmann (1843-1921). Die Bibel- und Talmudstudien sowie die exegetischen Traditionen wurden den Hörern von solch doppelseitig gebildeten Männern mittels moderner Methoden der Wissenschaften vorgetragen.
im 1. Weltkrieg
Seine Rabbinerordination erhielt Joseph Carlebach im Jahre 1914, unmittelbar bei Ausbruch des ersten Weltkrieges; 1915 meldete er sich freiwillig zum Militär und stieg bald in den Offiziersrang auf. Er wurde alsbald ins besetzte Litauen geschickt, um dort im Auftrag der deutschen Militärbehörden die jüdische Erziehung nach deutschem Muster umzustrukturieren.
So gründete er in Kowno das Carlebach-Gymnasium, eine Schule, drin Bildung sich mit Religion vermählet, dem Himmel und der Erde in Harmonie will dienen und will nützen wie sich eine seiner Schülerinnen in einem Gedicht ausdrückte. Dank seiner außergewöhnlichen erzieherischen Begabung entwickelte sich das Gymnasium zu einer schülerorientierten Hochburg. Als Direktor bemühte sich Joseph Carlebach auch um die Einbeziehung der örtlichen Talmudgelehrten, denen er ohne weiteres die höhere talmudische Kompetenz zusprach, und er studierte mit ihnen zusammen den Talmud nach der litauischen Methode. Nie ließ Joseph Carlebach eine Schulstunde ausfallen. Wenn einer der Lehrer erkrankte, sprang er selbst ein, um Französich, Latein, Chemie oder sogar Gesang zu unterrichten. Trotz anfänglich dürftiger Vorkenntnisse in der deutschen Sprache, konnten die Schüler die klassischen Dramen, wie etwa Nathan der Weise, unmittelbar erleben dank Joseph Carlebachs lebendigen, meist auswendigen Vortrags einzelner Szenen. Das Gymnasium umfaßte bald 800 Schüler und Schülerinnen, die bis dahin nur die traditionellen jüdischen Fächer gelernt hatten; schon nach kurzer Zeit konnten die ersten Schüler vor deutschen Offiziers-Professoren ihr Abitur in Mathematik, deutscher Literatur und anderen Fächern ablegen. Das Carlebach-Gymnasium diente bald als Musterinstitut für jüdische Schulen in Memel, Riga und Wilna.
Heirat und Familie
Noch in seinen Berliner Jahren trat Carlebach in Verbindung mit Familie Preuss, dem Elternhaus seiner zukünftigen Frau (Lotte Preuss). Der nach schwerem Leiden früh verstorbene Vater, Sanitätsrat Dr. Julius Preuss (1861-1913), beendete noch kurz vor seinem Tode seine monumentale Forschung über die biblisch-talmudische Medizin, zu welcher Joseph Carlebach eine anerkennende Rezension schrieb.
Anfang des Jahres 1918, während eines Heimaturlaubs in Berlin, hielt Joseph Carlebach bei der Witwe Martha Preuss, geborene Halberstadt aus Hamburg (1876-1960), um die Hand ihrer noch nicht 18jährigen Tochter an. Die Hochzeit mit seiner einstigen Schülerin aus dem Margarethen-Lyzeum fand ein Jahr später, am 1. Januar 1919, in Berlin statt. Im Laufe der Jahre wurden dem Ehepaar Carlebach neun Kinder geboren.
In Litauen setzte sich Carlebach vor allen Dingen für zwei pädagogische Neuerungen ein: Für intensive Lehrerkurse in dem von ihm organisierten religiösen Lehrerseminar Jawne und für die soziale und pädagogische Hebung der traditionellen Schule, des sogenannten Cheder, ohne diesem ein säkulares Programm aufzuzwingen. Nach seiner Meinung, die er auch immer wieder vertrat, war eine Vielfalt erzieherischer Rahmen existenzberechtigt.
Pädagoge in Hamburg
Der Tod seines Vaters, Rabbiner Dr. Salomon Carlebach, brachte ihn Anfang 1920 nach Lübeck zurück, diesmal als amtierenden Rabbiner. Aber noch im gleichen Jahr wurde ihm die Stelle des Direktors der Hamburger Talmud-Tora-Realschule, der sogenannten T.T.R. angeboten. In dem Konflikt zwischen seiner Pflicht, auf dem neuen Rabbinatsposten zu verharren, und der Möglichkeit, erzieherische Reformen verwirklichen zu können, entschieden nicht nur seine Kompetenz und seine Begeisterung für den Lehrerberuf, sondern auch die Meinung seiner jungen Frau, die gerade im erzieherischen Bereich seine eigentliche Bestimmung sah.
Noch während seiner Lübecker Amtszeit begann Joseph Carlebach seine Thesen für die Neugestaltung der T.T.R. Schule in Hamburg zu formulieren. Einen neuen Geist ersehnte er sich für diese ehrwürdige Schule im Sinne der jüdischen Tradition einerseits und im Zusammenklang mit den Bestrebungen der modernen Pädagogik andererseits sorgfältig darauf bedacht, daß das eine nicht zu kurz komme auf Kosten des anderen. Sein immer wieder zitiertes Motto war, einer talmudischen Auslegung eines Bibelwortes (Psalmen 105,15) entsprechend: Kinder sind Messiasse. Zu ihrer vollen Entfaltung müssen optimale Bedingungen geschaffen werden, und nichts, was diesem Erziehungsideal widerspricht, darf in die heiligen Hallen der Schule eindringen.
Die kleinen ABC-Schützen wurden von dem neuen Direktor persönlich und meist mit einem Scherzwort empfangen; sie wurden in ihren Klassen nicht auf langen Bänken plaziert, sondern auf passenden Stühlen um kleine Tische zu Gruppenarbeit angeregt. Ihren Lehrern ermöglichte der neue Direktor, den heimatkundlichen Unterricht im Sandkasten zu veranschaulichen und für das hebräische Lesenlernen eine selbst verfasste, kindergerechte Fibel auszuprobieren, welche statt deutscher Übersetzung den Inhalt durch Bilder veranschaulichte.
Als Naturwissenschaftler veranlaßte er die Einrichtung von Physik- und Chemielaboratorien, in denen die Schüler selbst Versuche machen konnten. Zur körperlichen Ertüchtigung wurde eine Turnhalle gebaut und obligatorischer Schwimmunterricht eingeführt; das ästhetische Empfinden wurde durch kreativ-künstlerisches Schaffen wie Zeichnen, Handarbeit und die kunstvoll-graphische Gestaltung der hebräischen Schrift angeregt. Die hebräische Sprache selbst wurde in ihrer erneuerten, modernen Form gepflegt, aber auch die hebräischen Originaltexte der mittelalterlichen Dichter aus der spanischen Blütezeit wurden gelernt und bei festlichen Veranstaltungen auswendig rezitiert. Die Weissagungen der großen biblischen Propheten, Jesajas, Jirmija und Jecheskel wurden "aktualisiert", indem z.B. die messianische Erlöserverheißung in mitreißender Begeisterung als Extrablatt ausgerufen und so gegenwartsnah erlebt wurde. Ja, die ganze Schule, das ganze Lernen wurde zum Erlebnis. Nicht ein abgezirkeltes Lernprogramm sollte eingepaukt, sondern der Lernprozeß aus sich selbst heraus entwickelt, das selbständige Denken und Entdecken angeregt werden. Statt der sorgfältig eingehaltenen Distanz zwischen Lehrern und Schülern wurde eine spontanere und vor allem individuellere Einstellung angestrebt und statt strenger Autorität eine erzieherische Freundschaft.
Dieses neue Verhältnis kam besonders bei den von Carlebach angeregten ausgedehnten Ausflügen zum Ausdruck, an deren Einzelheiten sich ehemalige Lehrer wie Schüler der T.T.R. auch noch nach vielen Jahren erinnern konnten: an die gemeinsam zu Fuß durchstreiften Wege und an das Schwimmen, aber auch an die Gemeinschaftsgebete, die zu vorgeschriebener Zeit, oft mitten im Ausflug abgehalten wurden. Gebetet wurde dann unter freiem Himmel oder in kleinen, verlassenen, ehemals jüdischen Betstätten, was Gelegenheit bot, der Geschichte der Juden an diesem oder jenem Ort nachzugehen. Es wurden eben alle Aspekte miteinander in Beziehung gebracht: der historische und der geographische, der jüdische und der deutsche, der naturwissenschaftliche und der religiöse. Ob zur jüdischen Geschichte, zur mittelalterlichen Architektur oder zu geographischen Besonderheiten, Carlebachs Vorträge an Ort und Stelle wußten immer Interessantes und Lebensnahes miteinander in Verbindung zu bringen, und oft sammelte sich bei solchen Gelegenheiten ein weiter Zuhörerkreis von zufällig Anwesenden um ihn.
Eine erzieherische Neuerung auf ganz anderem Gebiet war die Errichtung einer Hilfs- oder Förderklasse innerhalb der Schule. Kinder mit Lernschwierigkeit sollten nicht abgesondert werden, sondern durch ein ihnen angepaßtes Programm auch schulische Erfolgserlebnisse erfahren. Die Notwendigkeit der Hilfsklasse blieb auf lange Sicht erwiesen; sie bestand bis zum letzten Tag der Schule.
Nicht immer war es einfach, das gesamte Lehrerkollegium von den Erziehungsreformen zu überzeugen; einige der älteren Lehrer gaben ihrer lang erprobten geregelten und strengen Schulzucht den Vorzug. Es mußte deshalb ein jüngeres und dynamisches Lehrerpersonal eingesetzt werden - jedoch erst nachdem für die Ausscheidenden finanziell gesorgt worden war. Durch Carlebachs persönliche Intervention bei der Oberschulbehörde wurde den jüdischen Lehrern Hamburgs dieselbe Lehrerrente zugesichert wie ihren nichtjüdischen Kollegen.
Eine andere Neuerung war die Errichtung einer sogenannten kaufmännischen Jeschiwa. Zu Joseph Carlebachs Zeit war die T.T.R. noch keine Oberrealschule und nicht alle abgehenden Realschüler konnten ihr Studium mit einem Abitur an einem allgemeinen Gymnasium beenden. Diese Form der Jeschiwa ermöglichte ihnen, neben intensiven jüdischen Studien, auch kaufmännische Fächer zu erlernen, wie Buchhaltung, Stenographie und auch Spanisch, eine damals wichtige Handelssprache.
Ende 1925 verließ Joseph Carlebach nach fast fünfjähriger Leitung die Schule. Oberlehrer Dr. Armin Blau schrieb damals über ihn: Was Carlebach für diese Schule gewollt hat? Unermeßliches, beinahe Unendliches! .Das Leben in seiner Totalität sollte hier seine Pflanzstätte finden, die Lehren aller Völker und aller Zeiten, gesehen durch ein jüdisches Temperament. Kein Gebiet, ob geistig, ob physisch, sollte ganz fremd bleiben, weder die Kunst, die Malerei, noch die Plastik. Mit Feueratem, wie einer höheren Sehkraft gehorchend, ging er ans Werk. seine überragende Beredsamkeit, seinen Ideenreichtum, seine suggestive Liebenswürdigkeit setzte er an diesen Aufbau, alles mit sich reißend alle materiellen Schwierigkeiten es waren die Nachkriegsjahre mit Siegeslächeln überwindend. Und alle glaubten an ihn, die Alten wie die Jungen. Und dies muß man ihm als Ehrentitel buchen: Das Vertrauen der Schüler hat Carlebach in ganz beispiellosen Maße besessen. Seine Begeisterung, sein Ideenflug teilte sich den Schülern mit, zusehends wuchs ihre Freude an der Schule ... diese Schaffung einer jüdischen Atmosphäre um Schüler und Schule bleibt ein Ruhmesblatt des scheidenden Direktors für die jetzige und die nächsten Generationen
Die Altonaer jüdische Gemeinde
1925 wurde Dr. Joseph Carlebach als Nachfolger von Oberrabbiner Dr. Meir Lerner (1857-1931) zum Oberrabbiner von Altona gewählt. Die Jüdische Gemeinde Altonas war vormals (seit 1671) der rabbinische Mittelpunkt der Dreigemeinden Altona, Hamburg und Wandsbek (AHW) gewesen. Diese Vereinigung des Rabbinats bestand etwa 150 Jahre, und berühmte talmudische Autoritäten walteten dort ihres Rabbineramtes. In Folge politischer Wirren wurden die AHW Gemeinden auseinander gerissen und die Altonaer Gemeinde erlebte schwere finanzielle wie auch religiöse Erschütterungen. Ein Großteil der Mitglieder der Hochdeutschen Israelitengemeinde in Altona kam ursprünglich aus Polen, Zuflucht suchend nach den Chmjelnizki-Pogromen. Unter ihnen befanden sich auch viele ärmere Familien. Später dann, in den Jahren des ersten Weltkrieges, legte die Altonaer Gemeinde, ihrer patriotischen Einstellung entsprechend, ihr Vermögen in Kriegsanleihen an; so geriet sie infolge der schweren Verluste in zusätzliche finanzielle Schwierigkeiten.
Joseph Carlebach schrieb schon 1930 über diese Zustände Eine Geschichte der Juden in Altona, die aber erst nach über 50 Jahren veröffentlich wurde. Es war das Altonaer Wappen, das Symbol der offenen Tore, das ihm so ganz entsprach, und Altonas unter Beweis gestellter Aufnahmefreundlichkeit gegenüber verfolgten Juden aus Osteuropa sprach er in diesem Aufsatz seine Anerkennung aus.
Zu seiner Antrittsrede in der alten Synagoge an der Papagoyenstraße wählte er einen Bibelvers, der zum Torastudium, zum Lernen und zur Zusammenarbeit aller Volksschichten aufruft: Sammle das Volk: die Männer, die Frauen und Kinder und den Fremdling, der in deinen Toren weilt, auf daß sie hören und lernen (5. Moses 31,12).
Auch der damalige Oberbürgermeister Max Brauer (1887-1973) begrüßte ihn bei dieser Feier und blieb viele Jahre ein begeisterter Besucher von Oberrabbiner Carlebachs Vorträgen über Religionsphilosophie, Literatur oder die biblischen Propheten und ihre Gestalten aus der Künstlerhand Michelangelos. Diese Vorträge gehörten zum Altonaer Kulturmilieu; sie fanden meist im großen Saal des Altonaer Museums statt, vor einem mehrhundertköpfigen jüdischen wie nichtjüdischen Publikum.
Worin sah Joseph Carlebach sein zentrales Betätigungsfeld als Rabbiner? Seinem biblischen Motto entsprechend: In der Erziehung, der Verbreitung der jüdischen Lehre und der Schaffung einer Gemeinde, die zusammenhält. Als erstes widmete er sich den Problemen der Israelitischen Gemeindeschule. Diese Schule befand sich seit 1839 in demselben alten Gebäude; jetzt aber, nach fast 90 Jahren konnte jenes den modernen Schulanforderungen nicht mehr gerecht werden. Joseph Carlebach erwirkte, daß der Schule von der Stadt ein wirklicher Prachtbau zur Verfügung gestellt und schulgemäß renoviert wurde.
Bei Schülern, die der jüdischen Religion weitgehend entfremdet waren, verstand es Carlebach, das Interesse für die jüdische Tradition zu wecken mittels Anknüpfung an moderne literarische und wissenschaftliche Themen oder durch Stellungnahme zu aktuellen oder persönlichen Problemen. Zweimal in der Woche, nachmittags, fand sein Religionsunterricht in den Räumen der Palmaille-Schule statt, und am Freitag-Abend fanden sich die Jugendlichen im Carlebachschen Haus zusammen, um weiter aus den alten und zugleich neuen Quellen zu schöpfen; es wurden Lieder von neuhebräischen Dichtern gesungen oder Fragen erörtert, die Joseph Carlebach als messianisch lebensnah bezeichnete, so zum Beispiel: wie man etwa die Schabbatruhe in einem modernen Staate Israel verwirklichen könne.
Zweimal wöchentlich versammelten sich Männer aus allen Schichten der Gemeinde zu intensivem Talmudstudium. Erst definierte Rabbiner Carlebach das in der talmudischen Diskussion erörterte Grundproblem; und unter seiner Leitung arbeiteten die Beteiligten dann den talmudischen Text gemeinsam bis zur Lösung aller Fragen durch. Auch die Frauengruppen hatten ihren besonderen Lernunterricht bei dem Oberrabbiner, der Lernstoff behandelte meist biblische oder andere altjüdische Quellen zur Erziehung.
Das höchste Anliegen für ihn war der Zusammenhalt der Gemeindemitglieder: Das gemeinsame Fest in der Synagoge, wenn er die kleinen, schüchternen Kinder auf den Arm nahm und mit Jung und Alt im Tanz zu Ehren der heiligen Lehre sein Lied anstimmte; das gemeinsame Wochentags und Schabbatgebet in der Synagoge mit der anschließenden Predigt; die gemeinsame dritte Schabbatmahlzeit, begleitet von ostjüdischen Melodien, chassidischem Gesang und Erzählungen aus jüdischen Legenden; der Besuch zu Freud und Leid bei Familien aus allen Kreisen: bei Gemeindemitgliedern aus Ost und West und aus der Portugiesischen Gemeinde, bei Orthodoxen und Nichtreligiösen, Einfachen und Hochgestellten, bei den Edelsten und denen am Rande der Gesellschaft. Dazu gehörte auch der schabbatliche Gang in das Jüdische Krankenhaus, von Bett zu Bett seinen Trost und seine Ermunterung spendend; und denen, die nirgendwo ein Heim fanden, gemeinsam mit seiner Frau sein eigenes Zuhause anbietend.
Die ersten Jahre des Altonaer Rabbinats, die letzten Jahre der Weimarer Republik, waren eine Zeit der Blüte sowohl der Altonaer Gemeinde und ihrer Institutionen als auch der Kleingemeinden des Bezirks Schleswig-Holstein, denen Joseph Carlebach seine ganz besondere Aufmerksamkeit widmete. Von Zeit zu Zeit fuhr er über einen Schabbat in eine der Ortschaften (wie Flensburg, Rendsburg, Harburg oder Segeberg), um deren Gottesdienst durch eine Predigt zu bereichern oder mit den Gemeindemitgliedern in einem zwanglosen Gespräch über ihre großen und kleinen Sorgen zu sprechen. Er bedachte sie mit möglichst regelmäßigem Religionsunterricht und organisierte sogenannte Wanderlehrer, die nicht nur unterrichteten und vorbeteten, sondern auch den Kontakt mit der Altonaer Muttergemeinde aufrechthielten. Über die Klein- und Kleinstgemeinden wurde regelmäßig in dem Israelitischen Kalender für Schleswig Holstein berichtet.
Die Altonaer Rabbinatsjahre waren auch eine Blütezeit für Joseph Carlebachs literarisches und wissenschaftliches Schrifttum, das die Fülle seines weiten Horizonts wiedergibt. Oft kommen schon in der Thematik und der Titelformulierung sowohl die Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung als auch ein Bestreben nach Harmonie und ausgleichender Synthese zum Ausdruck: Pessimismus und Messiashoffnung (1927); Moral und Politik (1931); Naturwissenschaft und Wunder (1932); Religion und Wirtschaft (1933); Das Ewige und das Zeitliche im Wirken des Rabbiners (1933); Monotheismus und Monismus (1934); Das Gebet des Einsamen und das Gebet der Gemeinde (1934); Das Individuum und die Gesamtheit (1934).
Die biblischen Themen aus dieser Zeit umfassen die Gestalt der Königsurmutter Davids, Das Buch Ruth (1928); den allegorischen Liebesgesang, Das Hohelied (1931), das Joseph Carlebach allen Brautpaaren Israels widmete, und die Die drei großen Propheten (1932), in dem die drei Propheten Jesajas, Jirmija und Jecheskel, jeder in seiner besonderen Eigenschaft dargestellt werden; gleichzeitig setzte sich Carlebach wissenschaftlich mit dem Kernproblem der Prophetie auseinander sowie mit der umstrittenen Frage über die Vielschichtigkeit des Jesajabuches.
1933-1942
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war eine Herausforderung an ihn als Rabbiner, der er unerschrocken entgegentrat. In einer Predigt an seine Gemeinde (1933) und anschließend in einem Artikel, Das Leid (1934), stellte Joseph Carlebach nicht die Frage, warum das Leid über die Menschen kommt; vielmehr legte er den Schwerpunkt auf das Ziel, auf das Wozu des Leidens seine Antwort: Um die Nächstenliebe zu erlernen, zu praktizieren und unter Beweis zu stellen.
Zwei andere Aufsätze waren auch nach außen gerichtet: Ritualmord? (1934) war eine Antwort auf die Verleumdung durch die Ritualmordlüge, die der Stürmer im Mai 1934 als Sondernummer verbreitete. Dieser antisemitischen Verzerrung biblischer und talmudischer Texte entgegnete Oberrabbiner Carlebach mit einer historischen, reichlich mit Quellen belegten Antwort, die auch der Ironie nicht entbehrte. Der Stürmer berief sich nämlich auf die Aussagen eines getauften Rabbiners, worauf Joseph Carlebach entgegnet: Ein Täufling wird zunächst angeführt. Er entstammt also der jüdischen Rasse, der Mörderrasse, der sadistischen, der feigen. Wir dachten doch, daß kein Taufwasser die erbbiologischen Krankheiten und Gifte des jüdischen Blutes austilgen könne! Aber mit einem Male wird der Überläufer ein 'unwiderlegbarer Zeuge. Unerschrocken ließ er diese Schrift als Sonderdruck unter seinem vollen Namen erscheinen, ungeachtet der Warnungen vor den möglichen Gefahren. In einem anderen Aufsatz mit dem Titel Menschheit und Rasse (1934) belegt Joseph Carlebach in klar gegliederten Punkten die Unhaltbarkeit der Rassentheorie die des Menschens Wesen und Bestimmung allein von den biologischen Faktoren der Rasse abhängig sehen wollte. Vielmehr prägten auch äußere Einflüsse, die Umgebung und die Erziehung, vor allen Dingen aber die geistige Selbstbestimmung des Menschen, dessen Entwicklung und Charakter.
Im Jahre 1935, in dieser von bösen Ahnungen erfüllten Zeit, war es Joseph Carlebach noch einmal vergönnt, für einen kurzen Besuch im Heiligen Land zu verweilen. Wie damals, vor dreißig Jahren, war er überwältigt von seinen Eindrücken: Von der Erneuerung auf uraltem Boden, von der Wirklichkeit eines Alt-Neulandes, von den traditionell-revolutionären Ideen, von der Ideal-Aufgefassten, rauhen körperlichen Arbeit. Aber als er wie einst mit Rabbiner Kook zusammentraf, hatte Joseph Carlebach schon seine Entscheidung getroffen: Er fühlte, daß er zurückgehen müsse zu seiner gefährdeten Gemeinde, auch wenn das ein Zurück in ein Unheil drohendes Deutschland bedeutete.
Im April 1936 wurde er als Nachfolger von Oberrabbiner Dr. Samuel Spitzer (1871-1934) nach Hamburg berufen. Zu seiner Antrittsfeier als Hamburgs Oberrabbiner konnte selbst die große Bornplatz-Synagoge die heranströmenden Menschen nicht alle fassen, und so sammelten sie sich auch teils in der benachbarten T.T.R. um ihren neuen Rabbiner zu ehren. Es war eine der letzten großen feierlichen Ansammlungen von jüdischen Menschen in Nazi-Hamburg. In seiner Antrittsrede verzichtete er auf die Zurschaustellung rabbinischer Gelehrsamkeit und schrieb die schlichte, humane Nächstenliebe als wichtigste Parole auf sein Banner. Vor versammelten Menge versprach er, daß mein Haus und Herz jedem offenstehen wird und ich all die Nöte Eurer Seele mit Euch tragen werde, daß ich die Auszeichnung der Berufung auf diesen Rabbinatssitz nur als eine Verpflichtung nehmen will zu schlichter Menschlichkeit jedem gegenüber, das ist das Gelöbnis dieser Stunde ...".
Vor der geöffneten heiligen Lade sprach er ein eigens zu diesem Tage von ihm selbst verfaßtes Gebet. Es zeugt von wirklichkeitsbezogener Analyse der Situation und messianischer Hoffnung zugleich: Gott möge sich doch Seiner herrlichen Gotteshäuser erbarmen, damit sie nicht der Zerstörung anheimfallen, Er möge doch die junge Generation vor dem Schicksal der Zerstreuung und der Verfolgung bewahren. Schließlich sprach er seine verhaltene Hoffnung aus, daß auch die Stadt Hamburg, in deren Toren die Juden jahrhundertelang Aufnahme fanden, am endgültigen Frieden teilhaben möge.
Nur wenige Monate später erschien seine kleine Schrift über Das gesetzestreue Judentum (1936), in der ein von ihm bereits im Jahre 1910 erstmals formulierter Gedanke wiederkehrt: Die Lehre von der ständigen Todesbereitschaft als Grundmotiv des Menschseins.
Fünfeinhalb Jahre waltete Oberrabbiner Carlebach seines Amtes in Hamburg, Jahre die ihn in immer größerem Maße in Anspruch nahmen, an ihn nie geahnte Forderungen stellten und ihn mit immer schwereren Bedingungen konfrontierten. Aber er war keineswegs gewillt, seinen Lebensaufgaben und Lebensidealen, zu denen er sich verpflichtet fühlte, untreu zu werden: Verbreitung des jüdischen Wissens, Verinnerlichung des jüdischen Glaubens und verwirklichte Nächstenliebe.
Zu seinen Hospital-Besuchen kamen jetzt auch die im Untersuchungsgefängnis hinzu: ungeachtet der spöttischen Bemerkungen ging er dort von Zelle zu Zelle, um ein tröstendes Wort zu sagen, eine ersehnte Zigarette zu schenken und heimlich, unter größter Gefahr, auch kleine Briefzettel zwischen den meist unschuldig Gefangenen und ihren Familien zu vermitteln. Durch seine Briefe bemühte er sich, den Kontakt mit glücklich im Ausland geretteten sowie mit in den verschiedenen deutschen Konzentrationslagern inhaftierten Hamburger Gemeindemitgliedern aufrechtzuerhalten.
Als die schließlich einzige jüdisch- orthodoxe Autorität in ganz Deutschland gab Joseph Carlebach Anweisungen, wie unter den erschwerten Lebensbedingungen die Feste gefeiert und die überlieferten Gebote gehalten werden können. Er kämpfte um die orthodoxe Führung der Gemeindeinstitutionen, um sie vor inneren Konflikten zu bewahren: er ließ die Margarine-Rationen chemisch untersuchen, um zu prüfen, ob sie koscher waren, und beaufsichtigte noch zum Pessachfest des Jahres 1941 die Herstellung von Mazzot, der ungesäuerten Brote, in der einzigen noch funktionierenden Mazzotfabrik in ganz Deutschland, die mit der unermüdlichen Hilfe seiner Frau, Lotte Carlebach, alle Gemeinden versorgte.
In der Synagoge hielt er zeitbezogene Predigten, trotz der Aufsicht der Gestapo: bis zur Reichskristallnacht im November 1938 in der zentralen Bornplatz-Synagoge und nach deren Zerstörung in der restaurierten Dammtor-Synagoge; oder auch abwechselnd in kleineren, unscheinbaren Betstuben. Von der Kanzel aus rief er den Durch- und Ausreisenden seinen Abschiedsgruß zu und sprach den Zurückbleibenden Mut zu. Eine bemerkenswerte Toleranz zeichnete seine persönlichen Kontakte aus, und eine Menschenkenntnis, die ihn befähigte, einem jeden mit dem rechten Wort zu helfen, mit echtem Humor, mit Geist und mit warmherziger Güte.
Mit Würde reagierte Joseph Carlebach auf die gesetzlich eingeführten Schikanen: auf die eingeschränkten Existenzmöglichkeiten, das Abhören seiner Telefongespräche, die Beschlagnahmung seiner Bibliothek, den schließlichen Gehaltsentzug. Als sich die jüdische Bevölkerung selbst brandmarken mußte durch einen handtellergroßen .Sechsstern aus gelbem Stoff, wiederholte er von der Kanzel den Aufruf, den Robert Weltsch schon damals, nach dem Boykottsamstag (1. April 1933), veröffentlicht hatte: Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck! ein Ruf, der jetzt, in der konkreten Situation, über die symbolische Bedeutung hinaus unheimliche Dimensionen bekam. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ihm gelungen, nach und nach seine fünf ältesten Kinder ins sichere Ausland zu schaffen.
Am 25. Oktober 1941 setzten die Deportationen der Juden aus Hamburg ein; Oberrabbiner Carlebach setzte einen Fasttag an und bekundete, daß es sein ausgesprochener Wille sei, mit seiner Gemeinde bedingungslos zusammenzubleiben. Am 25. November 1941 bekam auch er den Bescheid, daß er mit seiner Frau, seinen noch in Hamburg verbliebenen vier jüngeren Kindern und etwa 800 Mitgliedern seiner Gemeinde das Todesexil anzutreten habe. Dieser relativ früh an ihn ergangene Deportationsbefehl bestürzte alle Zurückbleibenden. Es waren vielleicht sein würdevolles Auftreten und die waghalsigen Trostbriefe, die er an die Gemeindeangehörigen in den diversen Konzentrationslagern schrieb, die den Zorn der Gestapo erweckt hatten.
Das Ende
Oberrabbiner Carlebach stieg am 6. Dezember 1941 in den Deportationszug; er strahlte Wärme, Zuspruch und Gottvertrauen aus, unterstützt durch die tapfere Haltung und die Ruhe seiner Frau und seiner Kinder.
Auch in den vier Wintermonaten im KZ Jungfernhof bei Riga gab er nichts von seinen Lebensidealen auf. Er sorgte im Geheimen für Schulunterricht und Erwachsenenbildung, für Gottesdienst, für leuchtende Chanukkakerzen und für würdige Worte für jeden Einzelnen der so vielen Toten. Nicht mehr in die Kranken- und Altenhäuser, in die offenen Baracken schlich er sich nachts, sich von Koje zu Koje tastend, um seinen frierenden, hungerleidenden und gequälten Leidensgenossen seine warmen Trostworte zuzuflüstern.
Im KZ Jungfernhof wurde der nunmehr fast Sechzigjährige von einer schweren Krankheit heimgesucht, von der er sich nur erholte, um seiner Gemeinde auch im Tod erhobenen Hauptes voran zuschreiten.
Joseph Carlebach wurde mit seiner Frau Lotte (41), seinen drei jüngsten Töchtern Ruth (15), Noemi (14) und Sara (13) und den meisten der mit ihm deportierten Hamburger Gemeindemitgliedern am 26. März 1942 im Wald bei Riga ermordet. Sein jüngster Sohn, Schlomo, hat die Konzentrationslager überlebt
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