1933-1945 Opfer
Baer Julius
Geb.Datum: 17.05.1881
Geb.Ort: Untergrombach/Bruchsal
Geb.Land: Deutschland
Schule/Ausbildung: Volksschule
Beruf: Kaufmann, Textilwarenhändler
Handelsvertreter (für Agrarprodukte)
Familienstand: geschieden
Eltern: Berthold und Mina (21.12.1859-27.11.1942), geb. Rothschild, B.
Verwandtschaftsverhältnis: Geschiedener Ehemann von Zilly Baer (gest. 9.3.1931);
Vater von Kurt, Norbert und Karola Münzer, geb. Baer
Adresse:
1910-1915: Kaiserstr. 22, Karlsruhe
1915-1926: Markgrafenstr. 47, Karlsruhe
1926: Leopoldstr. 44, Karlsruhe
1927: Gluckstr. 16, Karlsruhe
1929: Körnerstr. 4, Karlsruhe
1931: Zähringerstr. 74, Karlsruhe
1933: Sophienstr. 116, Karlsruhe
1937: Lessingstr. 41, Karlsruhe
1939/1940: Steinstr. 12, Karlsruhe
Emigration:
Deportation: 22.10.1940 nach Gurs (Frankreich)
Lager: 10. November 1938 - 8. Dezember 1938 KZ Dachau, am 22.10.1940 Gurs (Frankreich)
Sterbeort: Gurs (Frankreich)
Todestag: 11. Dezember 1940
Haftgrund:Jude
Quelle: Institut für Stadtgeschichte Karlsruhe
Bemerkungen:
© 2009 tenhumbergreinhard.de (Düsseldorf)
Biographie
Julius Baer
Zur Erinnerung an die Familie Baer
Der älteste Sohn der Familie, Norbert Baer, geboren am 1. November 1909, hat den Holocaust überlebt. Leider haben wir etwas zu spät begonnen, uns mit dem Schicksal der Familie Baer zu beschäftigen. Der damals 95-jährige Norbert Baer hat einen Brief mit vielen Fragen zu seiner Familie nicht mehr beantwortet. Er hatte sich das erste Mal 1963 aus dem amerikanischen Bundesstaat New York wieder nach Karlsruhe gewandt, nachdem er in der deutschsprachigen Wochenzeitung Aufbau den Aufruf der Stadt Karlsruhe an die ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zur Kontaktaufnahme gelesen hatte. Daraus entwickelte sich eine Korrespondenz mit seiner Geburtsstadt über viele Jahre. Ein Brief erreichte uns sogar noch 2005. Norbert Baer berichtete in seinen Briefen, dass er sich oft der Tage seiner Kindheit und Jugend in Karlsruhe erinnere. Ostern 1915 trat er in die erste Klasse der Lindenschule in der Nähe des alten Bahnhofs an der Kriegsstraße ein. Der Erste Weltkrieg hatte schon begonnen, und die Kinder mussten wegen des Fliegeralarms ab und zu in den Keller. Auch an die Großherzogin Luise, die mit ihrem Pferdewagen durch die Straßen fuhr, konnte sich Norbert Baer noch gut erinnern. Insbesondere blieb ihm noch ein Kinderfest im St. Vincentiushaus am Karlstor im Gedächtnis. Alle Mitwirkenden einer Vorführung, zu denen er auch gehörte, wurden von einer Hofdame von der Bühne heruntergeholt und der Großherzogin vorgestellt. Mitteilungen über seine im Nationalsozialismus ermordeten Geschwister Kurt und Karola sowie seinen Vater Julius konnte er nicht machen.
Julius Baer kam am 17. Mai 1881 als Sohn von Bernhard und Mina Baer in Untergrombach auf die Welt. Sein Vater hatte das Metzgerhandwerk ausgeübt. In diesem ehemals katholischen Dorf des Hochstifts Speyer, heute Stadtteil von Bruchsal, lebte bereits seit dem Dreißigjährigen Krieg ein bedeutender jüdischer Bevölkerungsanteil. Der häufige jüdische Name Baer hat in dieser Region seinen Ursprung.
Wann genau Julius Baer nach Karlsruhe kam, lässt sich nicht feststellen. Jedenfalls wird er erstmals im Karlsruher Adressbuch von 1910 genannt mit der Wohnanschrift Kaiserstraße 22. Von Beruf war er Textilwarenkaufmann.
Am 5. Dezember 1908 heiratete er die in Schluchten bei Heilbronn geborene Zilli Schwarzwälder. Das junge Ehepaar ging nach Karlsruhe, zusammen mit den Eltern Zillis, Elias und Karoline Schwarzwälder, er war Lehrer gewesen, lebten sie einer Wohnung in der Kaiserstraße 22. Im gleichen Haus betrieb Julius Baer auch sein Geschäft. Rasch kam der erste Sohn zur Welt, Norbert, geboren am 1. November 1909. Etwas später, am 17. März 1912 folgten die Zwillinge Kurt und Karola.
Die größer gewordene Familie musste umziehen und fand in der Markgrafenstraße 47 ein neues Domizil. Diese Anschrift ist im Karlsruher Adressbuch von 1915 verzeichnet mit dem Zusatz Manufakturwaren, vermutlich betrieb Julius Baer von der Wohnung aus seine Profession, die anscheinend eine reine Handelsvertretertätigkeit war. In den nachfolgenden Adressbüchern sind weitere zahlreiche Umzüge der Familie dokumentiert: 1926 Gluckstraße 16, 1929 Körnerstraße 4, 1930/31: Zähringer Straße 74, 1933/34 Sophienstraße 116, 1937 Lessingstraße 41. Die berufliche Position scheint keine gesicherte gewesen zu sein, doch wenigstens zeitweise war das Auskommen wohl ein gutes. Julius Baer wechselte auch die Sparte. Zu einem allerdings nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt wirkte er als Handlungsreisender auf alleiniger Provisionsbasis für die Rohproduktenfirma Haas & Co. Der Firmeninhaber Walter Haas war mit seinen Umsätzen offensichtlich hoch zufrieden und bezeichnete ihn später als einer der besten Reisenden und persönlich ein tüchtiger und ehrenwerter Geschäftsmann. Nachdem Haas zusätzlich als Teilhaber in die 1931 gegründete Firma Rheinische Saaten GmbH einstieg, vertrat Julius Baer auch diese Firma. Daneben scheint er weitere Produkte im Landwirtschaftsbereich, nämlich Vieh, Äpfel und anderes an die Nachfrager gebracht zu haben. Er muss auf dem Land sehr viel herum gekommen sein. Als tüchtiger Verkäufer konnte er abhängig von Saison und der wirtschaftlichen Gesamtlage ein einigermaßen passables, jedoch wechselhaftes Einkommen erzielen.
Der älteste Sohn Norbert besuchte ab 1919 die Kant-Oberrealschule (heute Kant-Gymnasium). Er wiederholte die siebte Klasse und ging nach der Obertertia (9. Klasse) ab. Er war sehr sportlich, ab etwa 1927 war er aktiv beim Fußballclub Phönix Karlsruhe dem Vorläufer des KSC , jedoch in der Leichtathletikabteilung und hier insbesondere im Langstreckenlauf .
Im Anschluss an die Schulzeit absolvierte Norbert Baer eine Lehre bei der Metallwarenfabrik Gebrüder Palm in Malsch bei Rastatt. Von 1928 bis 1929 arbeitete er bei der Firma Rosenberger & Co., Werkzeug-Maschinen in Karlsruhe und anschließend bis 1931 bei der renommierten Eisenhandlung L.J. Ettlinger in der Kaiser- und Kronenstraße. Er wechselte im gleichen Jahr wie sein Vater in die neue Firma von Walter Haas, der Rheinischen Saaten GmbH, Schlachthausstraße 13.
Kurt Baer besuchte die Volksschule bis 1926 und absolvierte dann eine Lehre bei der Zigarrenfabrik Gebrüder Weil in Graben (Graben-Neudorf). Danach fand er Anstellung im modernen Kaufhaus Tietz in Karlsruhe.
Über seine Zwillingsschwester Karola ist über ihre Jugendjahre gar nichts bekannt.
Zerreißen der Familie
Die private familiäre Situation entwickelte sich nicht gut, es muss viel Leid in der Familie geherrscht haben. Die Ehe zwischen Julius und Zilli Baer war bereits im Juli 1930 geschieden worden. Die Umstände ließen sich nicht mehr feststellen. Zilli Baer verstarb mit 49 Jahren am 9. März 1931 nach einem Selbstmordversuch im Akademischen Krankenhaus Heidelberg. An welcher Krankheit sie litt, ist nicht bekannt.
Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten geriet das Leben der verstreuten Familie endgültig aus den Fugen. Der Geschäftsinhaber Haas der Firma, in der sowohl Vater Julius wie Sohn Norbert arbeiteten, wanderte nach den antisemitischen Boykottmaßnahmen noch 1933 nach Palästina aus. Norbert Baer, bisher Buchhalter, bekam die Funktion eines Liquidators der Firma Haas, wofür er mit Prokura ausgestattet wurde. Als Jude fand er anschließend keine neue Anstellung und entschloss sich, nach Palästina auszuwandern. Er kam in Kontakt zum Makkabiverband, über den er die Vorbereitungen für Jugendliche nach Palästina durchlief. Für die Alijah jüdische Einwanderung nach Palästina absolvierte er einen Umschulungskurs in der Landwirtschaft zuerst auf dem Gut Altkarbe bei Landsberg a.d. Warthe und danach auf dem Gut Bomsdorf bei Gräfenheinichen bei Bitterfeld. Ende Juli 1936 erhielt Norbert Baer vom Palästina-Amt in Berlin das Einwanderungszertifikat. Er fuhr noch einmal nach Karlsruhe, um sich von seinem Bruder Kurt und seinem Vater zu verabschieden, packte seine Sachen und fuhr Ende August mit einer Gruppe vom Makkabi nach Triest und von dort mit dem Schiff nach Haifa.
Karola Baer bekam im November 1933 eine Tochter, danach zog sie nach Heidelberg, 1936/37 nach Berlin, dort brachte sie am 19. Oktober 1937 den Sohn Wolfgang 1937 zur Welt. Sie arbeitete am dortigen Jüdischen Krankenhaus als Krankenschwester und verheiratete sich mit dem 1906 geborenen James Herbert Münzer. Mit ihm hatte sie den gemeinsamen Sohn Gad, geboren am 8. November 1941. Die Tochter lebte bei nichtjüdischen Pflegeeltern in Karlsruhe und überlebte die nationalsozialistischen Verfolgungen, trotzdem musste sie auch als junges Mädchen seit 1942 den Judenstern tragen. Die Familie Münzer wohnte in Berlin in der Levetzowstraße und in der Schillingerstraße.
Die gesamte Familie in Berlin kam durch den nationalsozialistischen Terror ums Leben. James Herbert Münzer nach den Erhebungen des International Trade Service in Arolsen bei der SXXX/17207 Sonderaktion. Karola blieb zunächst als Witwe mit ihren Kindern in der Berliner Elisabethstraße 53/54 wohnen. Im Transport Nr. 26 von Berlin am 12. Januar 1943 wurden Karola Münzer und ihre Kinder Wolfgang und Gad nach Auschwitz in den Tod deportiert.
Julius Baer
Julius Baer lebte nach dem Weggang seiner Kinder Karola nach Berlin und Norbert nach Palästina fast die gesamte Zeit allein. Beruflich konnte er offensichtlich keine Betätigung mehr finden. Seine letzte Wohnadresse war die Steinstraße 12, fast genau da, wo er nach dem ersten Umzug der Familie aus der Wohnung mit den Eltern seiner damaligen Ehefrau schon einmal gelebt hatte, nahe beim Dörfle, der Karlsruher Altstadt. Genaue Lebensumstände waren nicht mehr festzustellen. Gesichert ist, dass er die Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 miterlebte. Am folgenden Tag wurde er wie Hunderte andere jüdische Männer Karlsruhes verhaftet und nach dem KZ Dachau verbracht. Dort musste er bis zum 28. Dezember bleiben. Spätestens danach muss in ihm der Entschluss und Wunsch gereift sein, Deutschland, in dem er alles verloren hatte, zu verlassen. Er strebte an, zu seinem Sohn Norbert nach Palästina zu kommen. Am 21. Juli 1939 bestätigte die Auswanderer-Beratungsstelle seine Bemühungen darum und die Behörden einschließlich der Gestapo hatten keine Einwände. Doch die Emigration nach Palästina war nicht mehr möglich, sei es, dass die britischen Mandatsbehörden die Einreise vielleicht nicht erlaubten oder eher, dass der von Deutschland begonnene Krieg die direkte Ausreise nicht mehr möglich machte. Das Polizeipräsidium machte unter dem 3. Januar 1940 zu seinem genehmigten Passantrag den internen Aktenvermerk bisher nicht erschienen. Wie auch hätte Julius Baer zu diesem Zeitpunkt noch nach Palästina gelangen können?
Am 22. Oktober 1940 wurde er zusammen mit über 6.500 jüdischen Menschen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das südfranzösische Lager Gurs verschleppt. Wegen der schlechten hygienischen Bedingungen und unzureichender Nahrungsversorgung starben dort Hunderte von Menschen, vor allem Alte und Kranke in den ersten Monaten. Julius Baer starb am 11. Dezember 1940 er war gerade 59 Jahre alt.
Kurt Baer
Kurt Baer wurde noch im Jahr der Machtübergabe an den Hitlerfaschismus beim Warenhaus Tietz im August 1933 entlassen. Obwohl es ein Kaufhaus in jüdischem Eigentum gewesen war, war offensichtlich Druck ausgeübt worden, verheiratete NSDAP-Anhänger einzustellen und dafür andere junge Ledige zu entlassen. Danach fand Kurt keinen beruflichen Anschluss mehr. Der gerade 21-jährige Mann ging daraufhin außer Landes und schlug sich mit landwirtschaftlichen Arbeiten bei Bordeaux durch.
Ob er da bereits an eine Palästina-Emigration dachte, muss offen bleiben. Jedenfalls kehrte er im September 1934 nach Karlsruhe zurück. Unmittelbar darauf, am 7. November 1934 gibt er ein Vaterschaftsanerkenntnis ab. Aus einem Verhältnis mit der arischen Hausangestellten Maria B. war am 17. November 1933 der Sohn Wolfgang geboren worden.
Kurt Baer wurde am 7. Februar 1935 in Schutzhaft genommen und in das Landesarbeitshaus Kislau, d.h. KZ Kislau, eingeliefert, aus dem er neun Monate später am 15. November entlassen wurde. Laut Strafregisterauszug lag dem eine dreimonatige Gefängnisstrafe wegen tätlicher Beleidigung zugrunde. Die Gestapo hatte die dreimonatige Strafe eigenmächtig verlängert. Zugleich scheint Marie B. eine Passsperre gegen ihn beantragt zu haben, damit er nicht ins Ausland gehen konnte, was Kurt wohl abermals vorhatte. Seine Verbindung zu der Mutter des Sohnes hielt er nach der Haftentlassung aufrecht, obwohl er offensichtlich für die Familie nicht sorgen konnte. Maria B. arbeitet weiter als Hausgehilfin, während der Sohn Wolfgang bei ihren Eltern aufwächst. Kurt Baer wohnte allein in der Morgenstraße 14 und musste von wöchentlich 7 Mark Fürsorgeleistung auskommen.
Nur vier Monate nach seiner Arbeitshausentlassung kommt Kurt Baer in Polizeihaft und am 13. März 1936 in Untersuchungshaft ins Bezirksgefängnis Karlsruhe wegen Rassenschande, weil er angeblich noch im Dezember 1935 mit der Mutter seines Sohnes Wolfgang geschlechtlich verkehrt habe. Am 15. September 1935 war das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre in Kraft getreten, demnach in § 2 außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ verboten war. In § 5 wird für den Fall der Zuwiderhandlung Gefängnis oder Zuchthaus angedroht. Das nationalsozialistische Blutschutzgesetz bestimmte explizit, dass nur der Mann, unabhängig ob deutschen oder jüdischen Blutes, wegen Rassenschande verurteilt werden könne.
Die Umstände der Verhaftung sowie der nachfolgende Prozess sprechen für sich.
Am 12. März 1933 wurde er vor dem Haus verhaftet, in dem Maria B. bei einem Zahnarzt im Haushalt arbeitete. Von diesem sei er gemäß der Vernehmung der Maria B. zum Gehen aufgefordert, und als er dem nicht nachkam, auf die Ohren geschlagen worden. Dann habe der Zahnarzt die Polizei gerufen.
In der Vernehmung im Polizeipräsidium und vor dem Staatsanwalt wies Kurt Baer daraufhin, dass er Maria B. nur deshalb aufsuchen wollte, damit sie die Aufhebung der gegen ihn auf ihren Antrag hin verhängten Passsperre veranlasse.
Unter dem Druck der Vernehmung, welche auch die intimsten Aspekte nicht aussparte, machten beide widersprüchliche Aussagen zu ihrer Beziehung, die sie später zurückzogen. Was auch immer Polizei und Staatsanwaltschaft zu ergründen versuchten, sicher ist: eine zunächst von den Verfolgungsbehörden unterstellte Vergewaltigung hat nicht stattgefunden. Zu dieser Erkenntnis kam schließlich auch der Staatsanwalt.
Obwohl Kurt Baer auch einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit Maria B. bestritten hatte, wurde am 18. April 1936 Klage gegen ihn erhoben wegen verbotenen Geschlechtsverkehrs.
Während der Untersuchungshaft waren Besuche die Schwester Karola hatte es versucht und Briefe von Familienangehörigen verboten. Auch ein Schreiben an den Rabbiner Schiff wurde nicht weitergeleitet.
Die Gerichtsverhandlung am 16. Juni 1936 dauerte von 9 bis 11 Uhr, also lediglich zwei Stunden. Sie fand unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Böhringer statt. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Jahr Zuchthaus beantragt. Kurt Baer wurde zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Von einer Zuchthausstrafe, so das Urteil, wurde abgesehen, da Maria B. sich eines deutschen Mädchens durchaus unwürdig verhalten hat. Als erschwerende Umstände sah das Gericht Sittenlosigkeit und Trieb gerade zu arischen Mädchen an. Das behauptete Geständnis lässt sich weder dem in der Strafakte befindlichen Gutachten entnehmen, noch gibt es Protokolle von der Hauptverhandlung oder den Zeugenaussagen.
Kurt Baer hat offensichtlich am gleichen Tag auf eine Revision verzichtet. Ein entsprechendes Formular noch vor Gericht trägt seine Unterschrift, nicht aber die seines Anwalts.
Die Strafe musste Kurt Baer im Landesgefängnis Mannheim antreten. Offensichtlich war er sich seiner Lage, was die Dauer der Strafe anging, nicht bewusst. Im Januar 1937 reichte er beim Direktor des Gefängnisses ein Gesuch um Strafprüfung ein, da er der Auffassung war, dass aufgrund der zurückgelegten Haftzeiten seine Haft zum 16.12.1936 zu Ende gewesen sei.
Der Gefängnisdirektor urteilt über ihn in einer Stellungnahme an das Landgericht, dass er über die Haftzeit belehrt worden sei, und dass es sich bei ihm um eine debile, minderwertige, seelisch abwegige degenerierte Persönlichkeit handelte.
Für die nationalsozialistische Wissenschaft dagegen wurde er interessant, indem das Kaiser-Wilhelm-Institut, Abteilung Genealogie und Demographie in München seine Akte seriell auswertete.
Nachdem er im Oktober 1937 nach Wiesloch verlegt worden war, wurde er im Dezember 1937 tatsächlich nochmals aus dem Gefängnis entlassen.
1938 wurde er nach der Reichspogromnacht wie nahezu alle männlichen Juden in das KZ Dachau verbracht. Aus Dachau wurde er später wie die meisten anderen erst am 23. Januar entlassen. Die Entlassung bedeutete bei ihm allerdings nur, dass er direkt von Dachau wieder nach Kislau kam. Von dort erfolgte tatsächlich nochmals die Entlassung, wann genau ließ sich nicht feststellen. Von nun an fasste er aber endgültig keinen Tritt mehr. Von einer Arbeitsmöglichkeit ebenso wie von Fürsorgeleistung ausgeschlossen, schlug er sich vermutlich wohnsitzlos durch. Das brachte ihn zu seinem Jude sein zusätzlich als Asozialer in Konfrontation zum nationalsozialistischen Staat. Wegen Betteln und Landstreicherei wurde er im Juni 1939 vom Amtsgericht Rastatt zu 12 Wochen Gefängnis und anschließender Unterbringung im Arbeitshaus verurteilt. Sein genauer Lebensweg bis Anfang 1941 ist im Einzelnen nicht nachvollziehbar. Doch befand er sich sicher zum 22. Oktober 1940, als alle badischen Juden in das südfranzösische Gurs deportiert wurden, nicht in Baden.
Stattdessen ist zum 6. Februar 1941 seine Haft in der Strafanstalt in Darmstadt nachgewiesen. Von dort erfolgte seine Überstellung in das KZ Mauthausen. Im April 1941 während des länger dauernden Schubs nach dort war er nachweisbar für drei Tage im Gefängnis Regensburg als Zwischenstation. Wie viele muss er dort schwere KZ-Arbeiten verrichtet haben, vermutlich auch an der berüchtigten Todesstiege, an der die Häftlinge unter SS-Antreiberei schwere Steine vom Steinbruch hinaufzutragen hatten.
Am 21. Oktober 1941 starb Kurt Baer, er war 29 Jahre alt. Im Totenbuch von Mauthausen ist vermerkt: auf der Flucht erschossen, Todeszeitpunkt 7:30 Uhr. Die genauen Todesumstände werden sich nie mehr ermitteln lassen.
Epilog:
Die Tochter von Karola Münzer, geborene Baer, überlebte die Verfolgung bei ihren nichtjüdischen Pflegeeltern. Sie heiratete und lebte noch lange in Karlsruhe, an die Familie ihrer leiblichen Mutter hatte sie keine Erinnerungen mehr.
Norbert Baer schrieb 1987 über die Zeit nach seiner Flucht nach Palästina 1936: Im Einwanderungslager wurden wir informiert und zusammen mit einer anderen Gruppe nach den Hügeln im Emek Sebulon in der Haifa Bay geschickt. Nächst zu einem Kibbuz bekamen wir dort Land, das wir zu bearbeiten hatten. Wir schlugen unsere Zelte auf der Boden war so dürr, von der Sonne ausgebrannt, und wir mussten zuerst nach Wasser suchen. Mit Eisenstangen bohrten wir, damals hatten wir keine Maschinen wie heute und mit Dynamit bis wir auf Wasser stießen.
Palästina war noch britisches Mandatsgebiet. Norbert Baer verließ den Kibbuz und schlug sich als Kellner durch. 1941 ging er zur britischen Mandatsbehörde und wurde britischer Soldat. Nach Gründung des Staats Israel 1948 blieb er noch bis Mai 1949 in der israelischen Armee. Anschließend arbeitete er als LKW-Fahrer und bei der Post in Haifa.1951 heiratete er seine Frau Blanka. Achtundvierzigjährig wanderte er zusammen mit ihr im April 1957 in die USA aus. Ein Vetter von ihm, Fritz Baer aus Weingarten/Baden, betrieb in Fort Plain/New York ein Schlachthaus, in dem Norbert Baer bis zu seinem Ruhestand 1976 arbeitete. Danach zog er mit seiner Frau Blanka in die halbe Stunde entfernte Kleinstadt Amsterdam im Mohawktal, nicht sehr weit von Cooperstown, wo der Schriftsteller James Fenimorer das Buch Der Lederstrumpf schrieb.
Karl May las ich in meiner Jugend, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit Nachkommen von Indianerstämmen zusammenkommen werde, so Norbert Baer in seinem Brief von 1987 an den damaligen Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe.
Die nahe liegende Pfalz muss der Karlsruher Norbert Baer sehr geschätzt haben. In dem gleichen Brief gibt er ein Gedicht in Pfälzer Mundart wieder, welches sehnsüchtig die Heimat besingt, die man auch in der Fremde nie vergisst.
(Gabriele Masterson, Januar 2006)