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Nach dem Regierungsantritt der Faschisten am 30. Januar 1933 übten viele parteilose Bürger aktive Solidarität mit den Verfolgten. Ob Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden oder Christen, viele Menschen haben dadurch den braunen Terror überleben können. Aber allein schon der enge Kontakt zwischen den Familien der Inhaftierten, gegenseitige Beratung und Information gaben uns Halt.
Eine wichtige Nachricht für uns war die, daß man eine Erlaubnis für einen Besuch im Konzentrationslager beantragen konnte. Wie und woher wir diese Nachricht bekamen, weiß ich nicht. Ich war damals neun Jahre alt und wurde nicht in alles eingeweiht, obwohl ich viel miterlebte.
Einige Meldungen über den Terror der Nazis waren, zum Teil illegal, in die ausländische Presse gedrungen; mein Vater hatte dazu beigetragen. Diese Publizität mißfiel den neuen Machthabern. Sie versuchten, dem Ausland ein humanes Antlitz ihre Regimes vorzuspiegeln. Zu diesem Zweck luden sie ausländische Reporter ein. Das war die Zeit, als Angehörige der Gefangenen Besuchserlaubnisse erhielten. Die Leitung des KZ Sonnenburg hoffte dabei wohl auf die Entfernung von Berlin und auf die Fahrtkosten, die die meist arbeitslosen Frauen kaum aufbringen könnten.
Aber da setzte in aller Stille die Solidarität ein. Ein Lastkraftwagen wurde mit Sitzbänken bestückt und äußerlich mit einem Hakenkreuzwinkel verziert. Ob der Fahrer wußte, was für einen Auftrag er ausführte, weiß ich nicht, er brachte uns nicht bis Sonnenburg, sondern nur bis Küstrin.
An einem heißen Sommertag Anfang August 1933 begann die Fahrt am Alexanderplatz. Etwa 15 Frauen und einige Kinder waren die Fahrgäste, nachdem sie je drei Mark bezahlt hatten. Vorher war noch über die Flüsterleitung der gute Rat gekommen, Lebensmittel als Geschenke einzupacken und sie nicht in Kartons, sondern in Reisetaschen zu transportieren, die selbstverständlich zurückgebracht werden mußten. Der Sinn bestand darin, daß man nach dem Auspacken bei der Rückgabe nochmals einige Minuten mit dem Gefangenen sprechen konnte. Mit all solchen guten Ratschlägen versorgt, voller Aufregung und Spannung, was wir sehen und hören und in welcher Verfassung wir die Gefangenen antreffen würden, fuhren wir nach Küstrin, von wo wir dann den langen Rest des Weges zu Fuß gehen mußten.
Das KZ Sonnenburg war schon in der Weimarer Republik eine Strafanstalt gewesen, aber 1929 wegen schlechter hygienischer Zustände geschlossen worden. Die Faschisten hatten es als KZ wieder in Betrieb genommen.
An einer staubigen Landstraße kamen wir zu dem Tor, das von einem strammen SA-Mann bewacht wurde. Vor dem Wachgebäude mußten wir in glühender Mittagshitze warten und dann unsere Besuchserlaubnisscheine abgeben, damit der genannte Gefangene gebracht werden konnte. Überall standen junge SA-Männer herum und grinsten unsere verstaubt aussehende Gruppe höhnisch an.
Als einer der ersten tauchte mein Vater mit Bewacher auf dem grauen Hof auf. Er war nur ein Schatten seiner selbst, bekleidet mit einer grauen Uniform, ebenso grau war seine Gesichtsfarbe. Ich hatte ihn kaum erkannt, aber meine Mutter riß mich mit den Worten, Lauf, da kommt der Vati aus meiner Erstarrung. Ich rannte ihm einige Schritte entgegen und hing an seinem Hals, noch ehe mich der Wachmann daran hindern konnte. Den mitgebrachten großen Blumenstrauß aus unserem Gärtchen warf ich ihm ins Gesicht. Nach dieser stürmischen Begrüßung wurde ich zurechtgewiesen und zusammen mit meiner Mutter in eine Baracke geführt, wo drei Stühle standen, davon einer für den Bewacher. Ich sicherte mir einen Platz auf dem Schoß meines Vaters, den ich seit Monaten vermißt hatte. Aber damit zog ich mir wieder den Zorn des SA-Mannes zu, der meiner Mutter sagte: Warum bringen Sie die Jöre auch mit! Schlagfertig antwortete meine Mutter: Wenn Sie ein Herz haben, geben Sie zehn Minuten länger Besuchszeit, denn das Kind will doch auch mal den Vater sehen. Daraus wurde aber nichts eine halbe Stunde und nicht länger. Dann übergaben wir unsere Reisetasche mit allerlei Liebesgaben, die teilweise von Freunden und Genossen gespendet waren, denn meine Mutter erhielt nur wenige Mark Wohlfahrtsunterstützung, die sie jede Woche auf dem Rathaus abholen mußte, wobei sie ständigen Demütigungen ausgesetzt war. Mit Mutters Hinweis, wir würden warten, bis er uns die Reisetasche zurückbringe, verließ er uns. Der Bewacher war darüber sehr ungehalten, denn er mußte den Weg nun doppelt machen, wegen solcher Lappalie. Auch für die anderen war die Besuchszeit zu Ende. Auf diesem staubigen Hof warteten wir nun auf die Rückkehr unserer Lieben.
Die leere Tasche mußte in der Wachstube zur Kontrolle vorgezeigt werden, damit keine heimliche Nachricht nach draußen gelangen konnte. Um Zeit zu gewinnen, übernahm meine flinke Mutter diese Aufgabe nicht ohne Hintergedanken. Sie beschäftigte den Wachhabenden mit ausgesuchter Gründlichkeit bei der Kontrolle, bis dieser schon ungehalten wurde. Ihr Argument, daß sie gerade hier auf Gründlichkeit bedacht sei und daß später eventuell noch eine zweite Überprüfung kommen könne und er sicher genauso wie sie keinen Ärger haben wolle, zwang ihn zur Geduld. Derweil hatte ich meinen Vater für mich, der Wächter hatte das Interesse an mir verloren, und Vater konnte mir einige wichtige Dinge sagen, unter anderem daß er in Kürze nach Papenburg ins Moor kommen sollte. Auch nannte er mir die Namen einiger Spitzel. Die kurze Zeit war also gut genutzt. Schwer war der Abschied, denn man wußte ja nicht, ob er der braunen Hölle lebend entkommen würde. Meine Tränen habe ich aber tapfer unterdrückt, denn mein geliebter Vater sollte mich nicht als Heulsuse in Erinnerung behalten.
Der Rückmarsch nach Küstrin fiel uns schwer. Die Eindrücke der letzten Stunden belasteten uns. Fast in Panik gerieten die Frauen, als eine berichtete, ihr Mann sei geschlagen worden, sie habe sich beim Kommandanten über die Behandlung beschwert. Andere meinten, eine Beschwerde könne sich nur ungünstig auf die Gefangenen auswirken. So herrschte auf der Rückfahrt eine gedrückte Stimmung. Zu allem Unglück stöberte ein kleines Kind bei einer Rastpause ein Wespennest im Wald auf. Die Wespen verfolgten uns bis zum Fahrzeug, einige Frauen wurden gestochen. Am Abend stiegen wir am Alexanderplatz müde und mit schweren Herzen vom Wagen. Meine Mutter mußte sich in der Rettungsstelle am Gesundbrunnen einen bösen Wespenstich behandeln lassen. Aber das war nicht so schlimm wie die Ungewißheit, was den Gefangenen noch bevorstand. Die Reaktion auf die Beschwerde – jedenfalls interpretierten wir sie so kam umgehend: Keine Pakete mehr, eingeschränkte Postverbindung, Rauchverbot. Eine Besuchserlaubnis wurde nie wieder erteilt.
Mein Vater blieb bis Weihnachten in dieser Folterhölle. Danach wurde er auf Probe entlassen und wurde ständig beobachtet. Man glaubte, die Gefangenen eingeschüchtert zu haben, so daß sie keinen Mut zu weiteren politischen Aktivitäten aufbringen würden. Sie blieben unter ständiger Bespitzelung, gebrochen waren sie nicht! Damals gab es noch nicht die großen Massenvernichtungslager, und so brauchte man Platz für Neuzugänge, denn der Widerstand gegen die Machthaber wurde stärker. Also wurden etliche Häftlinge meistens abends, ohne Geld und Fahrkarte entlassen. Zu Fuß nach Berlin, nach Hause. Andere aber, darunter Carl von Ossietzky, wurden einige Wochen später ins KZ Esterwegen bei Papenburg überstellt.
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