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Charlotte-Helene Preuss wurde am 25. Kislew in Berlin geboren, also zum ersten Licht des Chanukka-Festes, und die traditionellen hebräischen Strophen der Chanukka-Hymne Maos Zur Jeschuati wurden so zu ihrer Geburtstagsmelodie gereimt.
Der Vater von Lotte Preuss war Sanitätsrat Dr. Julius Preuss (1861-1913), Verfasser des Standardwerkes "Biblisch-Talmudische Medizin", das als klassisches, überzeitliches Buch noch vor wenigen Jahren ins Englische übersetzt wurde (F. Rosner, 1977). Seine Frau, Martha Preuss, stammte aus einer Hamburger Familie. Ihr früh verstorbener Vater war Se'ev Halberstadt und ihre Mutter Mathilde, geb. Wolff. Letztere hatte als junge Witwe viele weitere Schicksalsschläge zu ertragen: Ihr Schwager, der Vormund ihrer Kinder, starb kurz nach dem Tode ihres Mannes, ihr dritter Sohn, ein viel versprechender Kinderarzt, fiel im ersten Weltkrieg, und ihre Schwiegertochter, Sophie, geb. Freud (Tochter von Sigmund Freud) starb im Alter von 27 Jahren. Als nun auch ihr Schwiegersohn, Dr. Preuss, starb, war seine Frau Martha 38 Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Lotte (später Carlebach), dreizehnjährig, Grete (später Goldschmidt), zehnjährig und der Jüngste, Otto, war erst sechs alt. Trotzdem verlor Mathilde Halberstadt nie ihren heiteren Sinn und blieb bis zu ihrem Tode (1932) eine vertraute Freundin ihrer Enkelin Lotte Carlebach in späteren Hamburger Jahren.
Lotte Preuss war eine hervorragende Schülerin und hatte, nach Aussage ihrer Mutter, am ausgeprägtesten die Intelligenz und die Charakterzüge ihres Vaters, Julius Preuss, geerbt. Für eine kurze Zeit war sie auch Schülerin von Joseph Carlebach in Mathematik und Naturkunde, die er am Berliner Margarethen-Lyzeum unterrichtete. Aber er kannte die Preuss-Familie nicht nur durch die Schule, sondern auch von Leseabenden und Schiurim, die er den Studenten-Pensionären im Preuss-Haus abhielt. Mutter Martha Preuss errichtete diese Pension, um in den schweren Kriegs- und Nachkriegszeiten eine Existenz zu haben. Während des Ersten Weltkrieges war Joseph Carlebach vom deutschen Militär in Kowno stationiert worden und wirkte dort als Gründer und Leiter des Carlebach-Gymnasiums. Ende 1917, auf einer seiner Urlaubsreisen, bat der damals Fünfunddreißigjährige um die Hand der noch nicht achtzehnjährigen Tochter. Trotz der großen Zuneigung, die Mutter Preuss schon damals für den begabten und fesselnden Lehrer Carlebach hatte, konnte sie sich nicht entschließen - wegen des Altersunterschiedes und der in Kowno stationierten Aufgabe. Aber nach zwölfstündiger Bedenkzeit sagte Lotte Preuss aus innerster Überzeugung: Ja, ich will. Das war ihr eigener, reifer Entschluß, an der Seite eines Mannes zu leben, dessen Größe sie schon als junges Mädchen ahnte. Nach der Hochzeit am 1. Januar 1919 folgte sie ihm also in das kalte Litauen, dessen Sprache sie nicht kannte und dessen Menschen ihr fremd waren. Danach ging sie mit ihm nach Lübeck und von dort, nach knapp anderthalb Jahren, nach Hamburg, nach Altona und wieder nach Hamburg bis in die Deportation.
Im Laufe der Jahre wurde die Ehe um neun Kinder bereichert, von denen sechs in Hamburg geboren wurden. An dieser Stelle sollen wenigstens die Namen derjenigen Kinder genannt werden, die nicht mehr unter den Lebenden weilen. Eva-Sulamith Heineman (Israel) und Judith Heyman (England), die beide nach schwerer Krankheit verschieden. Und Ruth, damals fünfzehn, Noemi vierzehn und Sara, dreizehn Jahre alt, die den Leidensweg mit den Eltern Joseph und Lotte Carlebach gingen und nicht vom Lager zurückkehrten.
Als Erzieherin von neun Kindern hat Mutter Lotte ihr großes pädagogisches Prinzip verwirklicht daß jedes Kind ein Individuum für sich ist, von ihr formuliert als Jedes Kind ist mein Einziges. Ihre Briefe nach Israel (1938-1941) bezeugen ihr tiefstes Verständnis für jedes Kind, für seine individuelle Entwicklung und Entfaltung. Mit liebendem Humor und gespannter Aufmerksamkeit verfolgte sie die geistigen Interessen jedes ihrer Kinder: welches Buch es las, welche Fragen es stellte und was es lernte. Es soll aber auch nicht unerwähnt bleiben, daß in ihren Briefen ihre große Sehnsucht nach Erez Israel zum Ausdruck kam, dem Land, das sie sich für ihre Familie und Kinder wünschte.
Lotte Carlebach besaß ein großes Anpassungsvermögen an die vielen Aufgaben in ihren Veränderungen und ständigem Wachstum im Berufe ihres Mannes, Rabbiner Dr. Joseph Carlebach. Das zeigte sich besonders in ihrer grenzenlosen Gastfreundschaft. Immer, wie auch unvorbereitet und plötzlich, konnte der Vater Gäste ins Haus einladen, zum Mittag, über Nacht, zu Schabbat oder zu Pessach. Zum Sederabend waren zumeist vierzig Personen bei Carlebachs zu Gast. Unter den Gästen waren oft auch prominente Persönlichkeiten; einer der letzten war der berühmte Cello-Spieler, Prof. Jacob Sakom. Aber in der Mehrheit waren es in den späten Jahren Flüchtlinge und trostsuchende Menschen, für die das Haus und das Herz von Lotte Carlebach offen standen. Trotz dieses immer überfüllten Hauses ermunterte sie ihre Kinder, Schulgefährten mit heimzubringen und sie auch über Schabbat einzuladen. Ihre Kinderliebe war grenzenlos. Viele Flüchtlings- und Waisenkinder aus den kleinen deutschen Provinzen tröstete und herzte sie wie ihre eigenen.
Bei dieser Gelegenheit soll an eine Hilfsaktion erinnert werden, an der Lotte Carlebach beteiligt war, die Pfundsammlung. Dieses besondere System bestand aus Lebensmittelspenden, in Pfund-Tüten verpackt, die jüdische Hausfrauen bei ihren Einkäufen nach eigenen Gutachten mit erstanden und an verschiedene Sammelstellen brachten, wie zum Beispiel in das Carlebach-Haus. Dort wurden diese Pfunde sortiert, neu zusammengestellt und bei einbrechender Dunkelheit an die bedürftigen Familien verteilt.
Aber die größte Liebe und Sorge war dem Vater, Joseph Carlebach gegeben. Frau Lotte sah darauf, daß er soweit wie möglich Bedingungen hatte, um seinem immer und immer größer werdenden Verantwortungskreis gerecht zu werden. Sie versuchte ihm tägliche Sorgen zu ersparen: so beschwichtigte sie die erregten Menschen, bevor sie in seine Sprechstunde kamen, und erledigte ihm die zeitraubenden Angelegenheiten bei den Behörden. Sie bediente Tür und Telefon der nicht endenden Bittsteller in der Zeit der Not, sie tippte Briefe und Empfehlungen. Die Mazzot-Versorgung für fast ganz Deutschlands jüdische Gemeinden zu Pessach 1940 und 1941 wurde durch ihre gesegneten Hände organisiert. Je größer die Aufgaben mit der wachsenden Not in Deutschland, desto größer wurde ihre Anpassungskraft und ihre Hilfe.. Sie beherbergte die Notsuchenden, sie bereitete kleine Lebensmittel- und Zigarettenpäckchen vor, die Joseph Carlebach unter Lebensgefahr in die Gefängnisse mitnahm, um die jüdischen, meist schuldlosen Gefangenen als Geistlicher zu besuchen und zu beglücken. Sie wußte um die Briefe, die er trotz ausdrücklichem Verbot ins Zuchthaus brachte und zurücknahm. Das waren besonders schwere Stunden für sie. Aber sie half weiter.
Lotte Carlebach lebte im Vorgefühl der kommenden Katastrophe und Zerstörung, wie es in ihren Briefen noch vor der sog. Kristallnacht am 9. November 1938 vielfach zum Ausdruck kam. Im Juni 1939 brachte sie einen Kindertransport nach England. Freunde und Verwandte versuchten, sie zu halten, angesichts der drohenden Gefahr, die die immer näher rückte. Aber sie war sich bewußt: Sie gehört an die Seite ihres großen Mannes. Wie nach ihrer Hochzeit im Januar 1919, als Achtzehnjährige, sagte sie auch jetzt: Ich will bei ihm bleiben. Damals, auf ihrem ersten Weg folgte sie ihm in das winterlich kalte Litauen. Auch auf ihrem letzten Weg ging Lotte Carlebach zusammen mit ihrem Mann, mit Joseph Carlebach. Im Dezember 1941 wurden sie mit ihren vier jüngsten Kindern nach Jungfernhof, ein Konzentrationslager bei Riga verschleppt, von denen nur der Sohn, Rabbi Schlomo Carlebach, zurückkehrte.
Joseph Carlebach ging ihr voran. Auf ihn sollen hier die von ihm oft zitierten Worte von Heine über Jehudah Halevy angewendet werden: Ja - er war ein großer Dichter, Stern und Fackel seiner Zeit, der voranzog der Geschichte Israels in der Wüste des Exils".
Die Größe von Lotte Carlebach lag in ihrer Bereitwilligkeit, ihm nachzugehen in die Wüste der Kälte und des Todes als Ausdruck ihrer Verehrung, ihrer grenzenlosen unbedingten Liebe zu ihm. Ihr gebührt der kennzeichnende und ergreifende Satz des Propheten Jeremia, den sie selbst als schönste Stelle im Rosch-Haschanah-Gebet empfand
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