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Richard Baer
Richard Moritz Baer wurde am 29. September 1886 in Mannheim als Sohn von Max und Henriette Baer, geborene Strauß, geboren. Er besuchte in seiner Heimatstadt das Humanistische Gymnasium und ging mit der Untersekundareife, also der Mittleren Reife ab. Danach begann er eine kaufmännische Lehre. Die in der Schule erworbenen Sprachkenntnisse scheint er systematisch angewandt und ausgebaut zu haben. Selbst im fortgeschrittenen Alter hielt er noch auf seine Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen, aber auch Französisch und Englisch hatte er erlernt und offensichtlich im Berufsleben angewandt. Während einiger Jahre Aufenthalt in den Niederlanden aus beruflichen Gründen hatte er sich auch Niederländisch fließend angeeignet. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges lebte er in Holland und soll nach den Angaben seiner späteren Ehefrau von der niederländischen Regierung das Angebot eines Postens im Handelsministerium erhalten haben, was er mit der Begründung ablehnte, er werde als Deutscher selbstverständlich nach Deutschland zurückkehren und seinem Heimatland, dem er verpflichtet sei, dienen. Er wurde als Soldat an der Vogesenfront eingesetzt und zweimal verwundet. Kriegsverwendungseingeschränkt wurde er so und vor allem wegen seiner hervorragenden Sprachkenntnisse bis zum Kriegsende in der Postüberwachungsstelle in Karlsruhe zur Zensur eingesetzt. In dieser Zeit muss er Gertrud Maria Rohde, am 4. Oktober 1890 als Tochter von Hermann und Marie Rohde in Dortmund geboren, kennen gelernt haben. Ihre gemeinsame Tochter Margarete Ellen wurde am 30. September 1917 in Karlsruhe geboren. Das Paar selbst heiratete am 24. November 1920 in Berlin. Die Karlsruher Zeit dürfte zum Entschluss geführt haben, hier eine neue Existenz zu begründen und das Familienglück zu suchen. Die Familie bezog eine Wohnung in der Karlsruher Südweststadt in der Graf-Rhena-Straße 13. Seine Geschäftsniederlassung etablierte Richard Baer jedoch in Rastatt, doch befand sich das Geschäftsbüro in der Karlsruher Gartenstraße. Die Firma Richard Baer war im Handelsregister Rastatt als Sortieranstalt in Lumpen und Stoffabfälle eingetragen, also eine Rohproduktenhandlung, heutzutage anglisiert Recycling genannt. Dieser Erwerbszweig war auch schon damals genau wie heute im umgekehrten Verhältnis zu dem gewiss nicht schönwertigen Handelsprodukt ein äußerst einkömmliches Geschäft für den Firmeninhaber. Richard Baer kaufte in Ballen gepackte Lumpen (Abfälle und Altmaterial) auf, sortierte diese nach bestimmten Merkmalen und Gattungen, um dieses Sortiment an die verschiedenen Nachfrager in der Industrie als Rohstoff für neue Textilprodukte aber auch andere verarbeitende Industrie wie in der Papierherstellung weiter zu veräußern. Richard Baer scheint dabei auch internationale Kontakte gepflegt zu haben, importierte über Seehafenplätze und trat außerdem als Kommissionär für die Wiener Firma Bunzel + Biach auf, eine der damals in Europa wohl bekanntesten Firma in dieser Branche. Seine damaligen Konkurrenten bescheinigten ihm später, ein erstklassiger Fachmann gewesen zu sein oder dass er aus kleinen Anfängen heraus [sein Geschäft] sehr gut entwickelt habe. Insgesamt hatte er sich in der Branche sehr gut positioniert. Finanziell hatte die Familie keine Sorgen. Zwischen 1923 und 1936 schloss Richard Baer fünf Kapital-Lebensversicherungen über jeweils 10.000 RM ab und 1924 und 1930 zwei andere über 3.000 und 5.000 RM, außerdem zwei zusätzliche Altersprivatversicherungen bei der Öffentlichen Versicherungsanstalt (ÖVA) über insgesamt 15.000 RM . Für einen Selbstständigen eine Notwendigkeit, doch zugleich ein Hinweis auf den Vorbedacht von Richard Baer und sein Streben, die Familie finanziell abzusichern. Dieser Finanzakt wird erst durch die infolge der nationalsozialistischen Verfolgung notwendig gewordene Veräußerung zum Rückkaufswert 1938 sichtbar, zu der sich Richard Baer durch den Zwang zur Geschäftsaufgabe genötigt sah.
Während durch den Judenboykott seit Machtantritt der Nationalsozialisten die jüdischen Ladengeschäfte an den Rand der Existenz oder bereits darum gebracht wurden, florierte Richard Baers Firma in ungeahntem Ausmaß. Betrug der Unternehmensumsatz 1932 noch rund 102.000 RM, so stieg er sprunghaft und kontinuierlich bis 1936 auf 560.000 RM und seinen dementsprechenden Nettoerlös. Dies stand im ursächlichen Zusammenhang mit der immer größeren Rohstoffkrise im Deutschen Reich sowie den Autarkiebestrebungen gemäß der betriebenen Wirtschaftspolitik. Richard Baer reiste immer noch umher für sein Gewerbe. Noch im Oktober 1936 beantragte er wegen der vielen geschäftlichen Auslandsreisen nach Österreich, in die Schweiz, nach Frankreich und nach England einen neuen Reisepass, den er auch anstandslos erhielt, mit Genehmigung der unterzeichnungspflichtigen Gestapo. Doch war sein Geschäft längst im Fokus des Interesses der NS-Wirtschaftsbehörden. Der Rohstoffbranche galt ein besonderes Interesse im Zusammenhang mit dem Vierjahresplan vom Reichsparteitag 1936 von Hermann Göring. Binnen vier Jahren sollten die Armee und die Wirtschaft kriegsfähig werden und dazu die Rohstoffbasis allein in arischer Hand liegen. Der Druck auf Richard Baer war also bereits sehr groß und er konnte sehr genau abschätzen, dass er seine gewohnte Existenz nicht würde fortführen können. So verkaufte er im März 1937 seine Firma mit dem Warenlager, das Grundstück dazu vergab er in Pacht, und begab sich außer Landes nach Benfeld im Elsaß, von wo aus er sämtliche Transaktionen ausführte. Die NS-Behörden verdächtigten ihn der Devisenvergehen, was aber tatsächlich gemäß der Finanzaufsicht nicht der Fall war und da sämtliche Verkäufe über sein in Baden befindliches Konto gingen, war der Fiskus auch in der Lage, die Reichsfluchtsteuer einzuziehen und später, nach der Reichspogromnacht, musste Richard Baer mit der perfiden Sühneabgabe einen Beitrag in Höhe von 7.250,- RM leisten. Der illegal erfolgte Grenzübertritt nach Frankreich und der Aufenthalt dort führten selbstverständlich sofort zum Passentzug am 20. April 1937, doch Richard Baer folgte der Aufforderung zur Abgabe nicht. Vier Tage später wurde seine Ehefrau Gertrud Baer in ihrer Wohnung in der Graf-Rhena-Straße staatspolizeilich aufgesucht und auch ihr wurde nun der Pass entzogen. Alles begründet mit eventuellen Devisenvergehen und Steuerrückständen des Ehemannes und außerdem der Fluchtgefahr ihrerseits. Dabei wurde bereits im August 1937 vom Finanzamt in Rastatt die steuerliche Unbedenklichkeit bescheinigt, ihren Pass erhielt Gertrud Baer dennoch nicht zurück, das sollte noch Monate dauern. Ihr Ehemann versuchte offensichtlich zum Jahresende bei der Deutschen Botschaft in Paris um Verlängerung seines nicht mehr gültigen Passes. Ob er sich Illusionen machte, dass dies möglich sein sollte? So erfolgte, was kommen musste, die postwendende Antwort der Gestapo Karlsruhe auf die entsprechende Botschaftsanfrage vom 23. Dezember 1937, dass der Pass eingezogen sei. Richard Baer befand sich damit in einer blockierten Situation, weiter reisen konnte er nicht, irgendwelche Pläne zur weiteren Emigration konnte er wohl auch nicht verfolgen, da die französischen Stellen nicht zuständig waren. So erwies sich im Nachhinein seine Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland als nicht ganz durchdacht. Während seine Ehefrau Gertrud und die gemeinsame Tochter inzwischen die Ausreiseprozedur mit der Emigration in die USA 1938 sogar erfolgreich abschließen konnten, saß Richard Baer in Frankreich fest, nach wie vor im Elsaß. Der Kriegsbeginn 1939 brachte ihn in das Landesinnere, seit 1940 lebte er in Lyon. Doch seine Lage wurde immer verzweifelter, musste er doch praktisch von der Hand in den Mund leben und mit dem Beginn der Judendeportationen aus Frankreich seit 1942 war er eher obdachlos, lebte einmal hier und einmal dort, ständig in der Furcht ergriffen und zur Deportation gebracht zu werden. Die häufigen Razzien in Lyon mussten zermürben. Er lebte praktisch im Untergrund, mied Hauptstraßen und versuchte einfach, nicht aufzufallen. Einige Bekannte gewährten ihm Unterschlupf, bei freundlich gesinnten Personen fand er hin und wieder ein Übernachtungsquartier, manchmal schlief er bei gutem Wetter auf dem Flachdach eines Mietshauses. Zuletzt soll er in Lyon in 39 Cours Albert Thomas gehaust haben. Doch am 26. Februar 1943 wurde er schließlich aufgegriffen, kam sofort in das Internierungslager Gurs, von wo aus er unmittelbar zum Transitlager Drancy bei Paris gebracht wurde. Von dort aus ging der nächste Sammeltransport am 4. März 1943. In jenem Monat nicht in das Vernichtungslager Auschwitz, sondern in das gleichfalls als Vernichtungslager errichtete KZ Lublin-Majdanek. Über die letzten Stunden von Richard Baer ist nichts bekannt. Sein Todestag ist im Nachhinein amtsgerichtlich mit dem 9. März 1943 angegeben. Trotz nicht vorhandenen Todesnachweises muss von der sofortigen Ermordung im Lager bei Ankunft jenes Transportes aus Frankreich ausgegangen werden.
Quelle: (Mehrnousch Zaeri-Esfahani, November 2007)
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