|
|
Erlebnisse im Waisenhaus Mit Datum vom 29. Mai 1935 teilte das Essener Amtsgericht dem im Stapeler Moor bei Papenburg einsitzenden Rudolf Larsch den plötzlichen Tod seiner Frau mit. Die eigenen Erlebnisse bei der Gestapo ließen ihn vermuten, dass seine Frau nicht eines natürlichen Todes gestorben sei. Das teilte er unverzüglich der Essener Staatsanwaltschaft mit und bat um eine Untersuchung. Erst Monate später fiel die Entscheidung. Aus einem am 16. Oktober 1935 an ihn gerichteten Brief erfuhr der Strafgefangene, seine Frau sei ,,unter Erscheinungen eines hohen Fiebers mit der Folge plötzlicher Herzschwäche gestorben“. Davon ausgehend, war Essens Oberstaatsanwalt zu dem Schluß gekommen: ,,Ein Verschulden irgendeiner Dienststelle an dem Tode ihrer Frau hat nicht festgestellt werden können. Ich habe deshalb das Verfahren eingestellt.“ Wie gewohnt, arbeiteten Justiz und Gestapo Hand in Hand. Über das Schicksal seiner vier Kinder wurde Rudolf Larsch durch einen Brief der Stadt Essen unterrichtet, den man am 12. Juni 1935 an ihn abgeschickt hatte: ,,Ihre Kinder, Hans, Wera, Kurt und Eva befinden sich auf Kosten des Wohlfahrtsamtes im Wilhelm-Augusta-Kinderheim in Essen, Berliner Straße“, hieß es darin. Wera Larsch war elf Jahre alt, als sie die Mutter und mit ihr auch das Zuhause verlor. Mehr als vier Jahrzehnte später erzählt die inzwischen selbst verheiratete Frau und Mutter: ,,Ich war nicht zu Hause, als die Gestapo unsere Mutter abholte. Bei der Rückkehr aus der Schule, gegen 13 Uhr, befanden sich meine verschüchterten Geschwister mit einem Beamten in der Wohnung. Hans war dreizehn, ich elf, Kurt neun und Evchen fünf Jahre alt. Hans ging mit mir ins Schlafzimmer und informierte mich flüsternd. Das Schlafzimmer sah aus wie bei einem Umzug. Alles stand zerwühlt und durcheinander umher. Der Gestapo-Beamte sprach mit uns kein Wort. Unter dem Eindruck des Erlebten und aus Angst vor dem Ungewissen wagte es auch keiner von uns, etwas zu sagen. Wir durften die Wohnung nicht verlassen, nicht einmal mehr allein zur Toilette gehen. Bald darauf tauchte eine Fürsorgerin auf. Begleitet von einem anderen Beamten, hatte sie den Auftrag, uns abzuholen. Das kleine Evchen glaubte dem entgehen zu können, indem sie sich unter das Sofa verkroch. Weinend und mit den Beinen strampelnd, weigerte sie sich mitzugehen. Ich musste sie erst beruhigen und half ihr dann die Schuhe anzuziehen. Mit bangen Herzen verließen wir unsere Wohnung. Was blieb uns auch übrig. Im Wilhelm-Augusta-Kinderheim in der Berliner Straße lieferte man uns ab. Es sollte fortan unser Zuhause sein. Ständige Schikanen, erbarmungslose Prügel und eine andauernde lieblose Umgebung gestalteten unseren jahrelangen Aufenthalt hier zur Hölle. Solche Art von Kindererziehung praktizierte ganz besonders die Oberin Elisabeth Müller. Für mich wurde die Frau zu einem Symbol des Unrechts und der Gewalt. Sie raubte meinen Geschwistern und mir die Kindheit. Mit einer Vielzahl von Beispielen bewies Wera Larsch, dass sie nicht leichtfertig zu solchen Schlussfolgerungen gekommen ist. Neben anderen schriftlichen Beweisen aus freudlosen Kindertagen zeigt sie einen vergilbten Zeitungsartikel. Geschrieben von der Journalistin Rita Zeidler, war er kurz nach dem Kriege in der auch in Essen erscheinenden Zeitung ,,Westdeutsche Volksecho“ veröffentlicht worden. Die Journalistin hatte Elisabeth Müller, ehemals Oberin im Wilhelm-Augusta-Kinderheim, an ihrer neuen Wirkungsstätte im städtischen Kinderheim Essen-Heidhausen aufgesucht und dabei mit ihr auch über die Kinder der Familie Larsch gesprochen. Wie im Heim in der Berliner Straße, war die ,,Erzieherin“ auch hier wieder Oberin. Das Gespräch hat Rita Zeidler in dem Artikel festgehalten. Darin heißt es: ,,Ausführlich verweist die Frau Oberin, die seit vielen Jahren als Oberin eines Waisenhauses der Stadt Essen tätig ist, auf ihren langjährigen Erfahrungen als Erzieherin. Oh, sie weiß mit Waisenkindern umzugehen! Disziplin – Ordnung – Respekt – Berufsausbild? Ja, sie wollen alle gerne hoch hinaus. Aber die meisten unserer Kinder stammen aus Verhältnissen – aus Verhältnissen – na, ich kann nur sagen, dass es für die Mädchen besser ist, in den Haushalt zu gehen. – Ja, die Verhältnisse! pflichten wir eifrig bei. Besonders die in den letzten 13 Jahren. – Und waren da nicht vielleicht Kinder in der Anstalt, deren Eltern von Hitler in Zuchthäuser oder Konzentrationslagern gesperrt waren. Wir müssen die Frage zweimal wiederholen, ehe die Frau Oberin versteht. Es scheint, dass sie noch nie davon gehört hat, dass es solche Verhältnisse gegeben hat. – Nein, nein, so etwas habe es nicht gegeben – nur ein paar Fälle, wo die Eltern wegen krimineller Taten im Gefängnis saßen. So, also gar keinen Fall von Kindern inhaftierter Hitler-Gegner? Ein rascher Blick aus den wachsamen Äuglein. Ach, ja – doch, einen Fall. Da war der Vater wohl im Konzentrationslager – und die Mutter war in irgendeine komische Sache verwickelt und ist dann gestorben. – Ja, das war wohl der einzige Fall. Und standen Sie denn seitens der Gestapo unter Druck, Frau Oberin, was die Erziehung und Behandlung dieser Kinder eines inhaftierten Hitler-Gegners betraf? – Oh, nein, gar nicht – nicht im geringsten. Was war das nun für ein Fall, von dem die Frau Oberin sprach? Der Vater im Konzentrationslager, die Mutter in eine komische Sache verwickelt und dann verstorben? – Es handelt sich um die vier Larsch-Kinder, die im Mai 1935 in das Wilhelm-Augusta-Heim der Stadt Essen eingeliefert wurden, deren amtierende Leiterin Frau Elisabeth war, nachdem erst der Vater und später die Mutter wegen hochverräterischer Tätigkeit verhaftet worden waren. Die Mutter starb an den Misshandlungen durch die Gestapo. Es sei hier in kurzen, sachlichen Feststellungen einiges von dem angeführt, was die vier Kinder in den folgenden Jahren unter der Herrschaft der ,,langjährigen Pädagogin“ Müller durchmachen mussten: Der wesentliche Bestandteil der Müllerschen Erziehungsmethode war Prügel. Die Kinder wurden mit der Faust, mit dem Handfeger, mit irgendeinem Gegenstand, der der Pädagogin Müller gerade in die Hand kam, ins Gesicht und auf den Kopf geschlagen. Auch pflegte Frau Müller die Köpfe der Kinder mit voller Wucht gegen Türen und Wände zu stoßen oder die Kinder zu Boden zu werfen und mit Füßen zu treten. Die Kinder wurden ständig als ,,Dreckiges Kommunistenpack“ und ,,Pollackengesindel“ beschimpft. Die Vormundschaft über die vier Kinder erschlich sich Frau Oberin Müller, indem sie gegen den Vater einen Antrag auf Entziehung der Elterlichen Gewalt wegen ,,geistiger Minderwertigkeit“ stellte. Dies alles sind durch Zeugen bestätigte Tatsachen. Sie sind schlimm genug in ihrer nüchternen Aufzählung. Aber man stelle sich einmal vor, welch jahrelanger, hilfloser Kummer verlassener Kinder darin enthalten ist, wie viele bittere Kindertränen in den blitzsauberen Räumen des Wilhelm-Augusta-Heimes geweint worden sind! Abschiednehmend erheben wir uns. Die Frau Oberin ist sehr rot im Gesicht. Es scheint fast, als wenn sich der fest eingedrehte Dutt an ihrem Hinterkopf gelockert hat. Aber sie bringt ihn sofort mit einem energischen Griff in Ordnung. – Auf den spiegelnd gebohnerten Gängen begegnen uns wieder knicksende Kinder in fleckenlosen Schürzen. Die Tür des musterhaft gehaltenen Kinderheimes der Stadt Essen in Heidhausen fällt hinter uns ins Schloß.“
Der grausame Mord an Käthe Larsch Gestapo-Beamte Ernst Schröder
|